3. Teil der Wesensanalyse: Das Herz (al-qalb)

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM


…und haben sie nicht Herzen, um zu begreifen, oder Ohren, um zu hören? Denn es sind ja nicht die Augen, die blind sind, sondern blind sind die Herzen in der Brust. [22:46]

Wahrlich, bei den Kafirun ist es gleich, ob du sie warnst oder nicht: sie werden nicht Mu’minun werden. Versiegelt hat Allah ihre Herzen und ihr Gehör; und über ihren Augen liegt ein Schleier. Und ihnen wird eine gewaltige Strafe zuteil werden. [2:6-7]

…In ihren Herzen ist Krankheit… [2:10]

Um die Beziehung zwischen dem, was man mit seinen Sinnen aufnimmt und den Schlussfolgerungen, die man daraus zieht, besser zu verstehen, wird im Folgenden betrachtet, was genau der Begriff „Herz“ (arab. qalb) im koranischen Sinne bedeutet. In den oben aufgeführten Versen wird dieser Begriff benutzt.

Das Herz im koranischen Zusammenhang
Said Hawwa sagt:

„Am Anfang der Sure Al-Baqara (Sure 2) wird über die Kafirun gesagt: „Versiegelt hat Allah ihre Herzen“. Über die Heuchler wird gesagt: „…In ihren Herzen ist Krankheit…“. Im Koran und in den Aussprüchen des Propheten (Allahs Segen und Heil auf ihm) kommt das Wort „Herz“ sehr häufig vor. Oft wird jedoch dieses Wort falsch verstanden. Zusammenfassend wollen wir hier festhalten: Es gibt einmal ein materiell fassbares Herz, welches sowohl der Mensch als auch viele andere Geschöpfe haben. Damit ist das Herz gemeint, welches als Pumpe für den Blutkreislauf dient. Dieses materiell fassbare Herz ist jedoch auch der Ort eines anderen Herzens, nämlich von Gefühlen wie Liebe, Hass, Boshaftigkeit, Großmut, Angst und innerer Friede. Diese Gefühle selbst sind für jeden Menschen ebenfalls fassbar, da jeder Mensch einen Teil dieser Gefühle bei sich verspürt. Dieses zweite Herz ist der Ort, mit dem man den Iman schmeckt und es ist ebenfalls der Ort, an dem der Kufr bzw. die Heuchelei stattfindet. Es gibt nun viele Gefühle, die manche Menschen sehr wohl verspüren, wobei andere Menschen diese Gefühle nicht verspüren. Die Mu’minun beispielsweise spüren viele Wertgefühle, welche die Kafirun nicht verspüren, weil bei den letzteren der entsprechende Teil dieses zweiten Herzens tot ist. Dieses zweite Herz ist jedoch nicht identisch mit dem ersten Herz. Dies sieht man daran, dass bei Menschen, bei denen eine Herztransplantation vorgenommen wurde – die also ein anderes von der ersten Art bekommen haben -, sich nicht auch die Wertgefühle geändert haben… Dieses zweite Herz kann erkranken, gesunden, blind und taub werden. Daher sehen wir, wie in diesem Anfangsabschnitt der Sure 2 über die Kafirun gesagt wird: „Versiegelt hat Allah ihre Herzen“ und über die Heuchler wird gesagt: „…In ihren Herzen ist Krankheit…“. Etwas weiter beschreibt Allah die Heuchler mit „Taub, stumm, blind…“[2:18].

Mudschahid hat gesagt:
„Die Sünden haben sich im Herzen festgesetzt und begannen, das Herz von allen Seiten zu überdecken, bis sich die Teilüberdeckungen schließlich treffen. Dieses Zusammentreffen der Teilüberdeckungen nennt man die „Versiegelung.“

In einem gesunden Hadith, den Hudhaifa überliefert hat, berichtet der Gesandte Allahs (Allahs Segen und Heil auf ihm):
„Die Verführungen dringen eine nach der anderen auf die Herzen wie die Fasern eines Strohteppichs, den man Schicht für Schicht herstellt. Jedes Herz, das einer dieser Verführungen nachgibt, bekommt einen schwarzen Fleck. Dagegen bekommt das Herz, das sie zurückweist, einen weißen Fleck. So wird schließlich ein Herz zu eines der beiden folgenden: Entweder ein weißes Herz, welchem keine Verführung mehr schaden kann, solange Erde und die Himmel bestehen, oder aber ein sehr schwarzes Herz, welches nicht mehr das Gute gebietet und nicht mehr das Schlechte verwehrt.“

Ibn Dscharir (d. h. Tabari) hat gesagt:
„Der Gesandte Allahs berichtete, dass, wenn Sünden in großer Folge auf die Herzen kommen, dadurch die Herzen verschlossen werden. Und wenn die Sünden einmal das Herz verschlossen haben, kommt das Siegel von Seiten Allahs, so dass es für sie keinen Weg zum Iman und keine Errettung vor dem Kufr gibt. Im Vers „Versiegelt hat Allah ihre Herzen und ihr Gehör…“[2:6] ist dieses Siegel gemeint…Und so kommt auch der Iman nicht in ein Herz, welches Allah als „von Ihm versiegelt“ bezeichnet, bevor nicht die Versiegelung aufgehoben wird.“

Wenn man dies weiß, und den Versteil „…und als sie abwichen, ließ Allah ihre Herzen abweichen…“[61:5] und ähnliche Koranverse versteht, dann wird einem klar, dass Allah ihre Herzen versiegelt hat und ihnen nicht die Rechtleitung gibt, als angemessene Strafe dafür, dass sie absichtlich der Lüge nachgehen und das Recht und die Wahrheit beiseite lassen…“(5)
Soweit zu dem, was Said Hawwa zu diesem Thema sagt.

Umgekehrt gilt natürlich auch, dass der Mensch durch charakterliche Reinigung immer sehender bezüglich der Wahrheit wird:

Allah ist der Schutzfreund der Mu’minun. Er bringt sie heraus aus tiefer Finsternis zum Licht…[2:257]

Dieser Weg des rechtschaffenen Muslims vom Zweifel zum felsenfesten Iman ist eindrücklich in Abu Hamid al-Ghazalis autobiographischem Werk „Der Erretter aus dem Irrtum (al-Munqidh mina ad-dalāl)“ beschrieben.

Einige Koranverse in diesem Zusammenhang und deren Erläuterungen

Allah, der Erhabene, hat gesagt:
Nein, jedoch das, was sie zu tun pflegten, hat auf ihre Herzen Schmutz gelegt. [83:14].

Und wen Allah rechtleiten will, dem weitet Er die Brust für den Islam; und wen Er in die Irre gehen lassen will, dem macht Er die Brust eng und bedrückt, wie wenn er in den Himmel emporsteigen würde. … [6:125]

Abwenden aber will Ich von Meinen Zeichen diejenigen, die sich im Lande hochmütig gegen alles Recht gebärden; und wenn sie auch alle Zeichen sehen, so wollen sie nicht Mu’minun werden; und wenn sie den Weg der Rechtschaffenheit sehen, so wollen sie ihn nicht als Weg annehmen; sehen sie aber den Weg des Irrtums, so nehmen sie ihn als Weg an. Dies (ist so), weil sie Unsere Zeichen für Lügen erklärten und sie nicht achteten. [7:146]

Ibn Kathir sagt zu diesem Vers:
„Abwenden aber will Ich von Meinen Zeichen diejenigen, die sich im Lande hochmütig gegen alles Recht gebärden“ bedeutet: „Die Herzen derjenigen, die zu stolz sind, Mir zu dienen, und die gegen alles Recht hochmütig (arab. kibr) gegenüber anderen Menschen sind, lasse Ich nicht die Argumente und die Zeichen verstehen, die auf Meine Allgewaltigkeit und auf die Wahrheit des Islams und Meiner Gesetze hinweisen.“
D. h. so wie sie gegen alles Recht hochmütig sind, so erniedrigt Allah sie, indem er sie unwissend macht:
Und Wir werden ihre Herzen und ihre Augen verwirren, weil sie ja auch das erste Mal nicht Mu’minun wurden. [6:110]

An einer anderen Stelle des Korans steht:
…und als sie abwichen, ließ Allah ihre Herzen abweichen… [61:5]

Der nächste Versteil
„…und wenn sie auch alle Zeichen sehen, so wollen sie nicht Mu’minun werden…“

ist wie
„Wahrlich, diejenigen, gegen die das Wort deines Herrn ergangen ist, werden nicht Mu’minun werden – auch wenn zu ihnen irgendein Zeichen käme, bis sie die schmerzliche Strafe sehen. [10:96-97]…“

O ihr Mu’minun, hört auf Allah und den Gesandten, wenn er euch zu etwas aufruft, das euch Leben verleiht, und wisset, dass Allah zwischen den Menschen und sein Herz tritt, und dass ihr vor Ihm versammelt werdet. [8:24]

Zum Versteil „…und wisset, dass Allah zwischen den Menschen und sein Herz tritt…“ sagt Ibn Kathir:
„…Ahmad berichtete, dass Umm Salama berichtete:
„Der Gesandte Allahs (Allahs Segen und Heil auf ihm) sprach oft folgendes Bittgebet: „O Allah, der du die Herzen wendest, festige mein Herz so, dass es bei Deiner Religion bleibt“. Da fragte ich: „O Gesandter Allahs, können denn die Herzen gewendet werden?“, worauf er sagte: „Ja! Das Herz eines jeden Menschen, den Allah geschaffen hat, hält Allah zwischen zweien Seiner Finger. Wenn Er will, führt Er das Herz auf den richtigen Weg und wenn Er will, lässt Er es abweichen. Drum bitten wir Allah, unseren Herrn, dass Er unsere Herzen nicht von Ihm sich abkehren lassen möge, nachdem Er uns rechtgeleitet hat. Und wir bitten Ihn, dass Er uns Barmherzigkeit von Ihm schenken möge; denn Er ist ja wahrlich der unablässig Gebende.“
(6)….“

Warum können aber trotzdem Menschen, die Kufr begangen haben, später Mu’minun werden?
Said Hawwa sagt:
„Man kann beobachten, dass viele Menschen, welche zunächst Kufr begehen, später in den Islam eintreten… In der Erläuterung zu den Versen [2:6-7], welche von den Kafirun sprechen, wurde jedoch gesagt, dass es bei diesen Menschen egal ist, ob man sie warnt oder nicht, da sie sowieso nicht Mu’minun sein werden. Wie lassen sich nun diese beiden Aussagen miteinander vereinbaren? Ein bzw. mehrere Korankommentatoren sagen diesbezüglich: „Mit „den Kafirun“ sind solche Menschen gemeint, von denen Allah weiß, dass sie nicht Mu’minun sein werden. Und so ist es folglich egal, ob man sie warnt oder nicht.“…
Wir werden im vorliegenden Korankommentar noch sehen, dass diese beiden Verse [2:6-7] durch andere Suren des Korans ausführlicher erläutert werden. Anhand des Studiums dieser Sure wiederum werden wir sehen, dass der vollständige Kufr dann vorhanden ist, wenn die fitra(7), d. h. die natürliche Veranlagung des Menschen, im Herzen völlig ausgelöscht wurde. Dies wiederum hat eine bestimmte Beschaffenheit und hat sowohl Anzeichen als auch Auswirkungen. Wenn die bestimmte Beschaffenheit, die Anzeichen und die Folgen alle auf einmal auftreten, so ist bei diesem Menschen kein Rest der fitra mehr vorhanden. Bei diesem Menschen ist es dann so, dass eine Warnung nichts mehr nützt. Da jedoch nur Allah weiß, ob sich ein Mensch in diesem Zustand befindet, haben wir die Aufgabe, die Menschen zu warnen… Bei denjenigen von den Nichtmuslimen jedoch, bei denen noch ein Rest der fitra vorhanden ist, besteht immer noch eine Hoffnung, dass sie rechtgeleitet werden mit der Erlaubnis Allahs:

Kann wohl einer, der tot war und dem Wir Leben gaben und für den Wir ein Licht machten, um damit unter den Menschen zu wandeln,… [6:122].

Der Mensch kommt nur durch sein eigenes Verhalten auf eine Stufe des Kufr, bei der es keine Hoffnung gibt, dass er noch Mu’min wird… Unsere Interpretation der Verse [2:6-7] soll nicht der Interpretation derjenigen widersprechen, die sagen, dass hier diejenigen gemeint sind, von denen Allah weiß, dass sie nicht Mu’minun sein werden. Unsere Interpretation zeigt lediglich zusätzlich auf, warum manche Nichtmuslime später Muslime werden und andere wiederum nicht…“

al-Ghazali sagt:
„Der Mensch besteht aus zwei Dingen, dem Leib und dem Herz (Geist, Seele).
Das Herz ist geschaffen für die jenseitige Welt und seine Aufgabe ist das Suchen seiner Glückseligkeit. Seine Glückseligkeit aber besteht in der Erkenntnis Gottes.

Der Mensch muss auch seine Unvollkommenheit und Ohnmacht erkennen. Denn auch diese Seite der Selbsterkenntnis ist ein Schlüssel zur Erkenntnis Gottes“.
(8)


Fussnoten:

(5) siehe [SaidHawwa3], Kommentar zum Anfangsteil von Sure 2
(6) Dies berichtete in einem etwas anderen Wortlaut auch Tirmidhi (2140). Albani erklärte den Hadith von Tirmidhi für gesund (sahih).
(7) Die fitra ist die von Allah in den Menschen gelegte natürliche Veranlagung. Der Islam ist die Lebensweise der fitra.
(8) Zusammengefaßt aus [Ghazali], S.35-73.


Quelle: تزكية – Tazkija / Charakterreinigung – Wie man ein guter Mensch wird
Diese Buch basiert zumeist auf dem klassischen Werk Mukhtasar Minhādsch al-Qāsidīn von Ibn Qudama al-Maqdisi (651-689 n. H.).
Dieses ist eine Kurzfassung des Werkes Minhādsch al-Qāsidīn (Der Weg der Strebenden) von Ibn al-Dschauzi (510-594 n. H.), welches widerum eine Redigierung des Werks إحياء علوم الدين / Ihja’ Ulum ad-Din (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) von Abu Hamid al-Ghazali (450-505 n. H.) ist.