Verblendetsein (الغُرور)

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

 

Allah sagt:
…Darum soll das Leben dieser Welt euch nicht verführen, noch sollt ihr euch über Allah mit (eurem) Denken selbst täuschen.
[31:33]

Verblendung durch das irdische Leben
Ibn Qudama:
Viele Menschen lassen sich durch das irdische Leben verblenden und täuschen und sagen: Es ist besser, gleich etwas Gutes zu haben als darauf bis nach dem Tod warten zu müssen. D. h. sie wollen grundsätzlich auf nichts im irdischen Leben verzichten und wollen das Jenseits völlig außer Acht lassen. Dies ist die Verblendung der Kāfirūn.

Muslime, die zwar ans Jenseits Imān haben aber trotzdem ähnlich handeln, leiden unter einer ähnlichen Verblendung, wenngleich diese auch nicht so stark ist, da sie immerhin grundsätzlich das Jenseits beachten, was sich in manchen Dingen widerspiegelt, wie z. B. dass sie etwa zum Freitagsgebet gehen o. ä.

Beide Denkweisen sind aber falsch, denn es ist nicht besser, gleich im irdischen Leben alles genießen zu können – einschließlich sündhafte Dinge – und dann dafür im Jenseits möglicherweise ewig im Feuer zu sein, als die kurze Zeit des irdischen Lebens sich etwas einzuschränken, indem man die Gebote Gottes befolgt, um dann ewig im Paradies zu sein.

Verblendung einiger Muslime, die sich falsche Vorstellungen von der Abrechnung Allahs machen
Eine andere Art von Täuschung, die bei Muslimen vorkommt, ist die, dass man sagt:
„Gott ist barmherzig und freigiebig. Er wird es mir schon vergeben, wenn ich nicht seine Gebote einhalte“.

Allah sagt:

…sie greifen aber nach den armseligen Gütern dieser niedrigen (Welt) und sagen: „Es wird uns verziehen werden.“…[7:169]

Der zweite Teil des oben angeführten Versausschnittes von [31:33] gibt eine Antwort auf solche Leute.
Man muss energisch mit seinem eigenen Ego umgehen und sich selbst zur Rechenschaft ziehen, so dass man das, was Gott einem zur Pflicht auferlegt hat, erfüllt, und sich nicht von Selbsttäuschungen leiten lässt. Denn Allah belohnt die Menschen für das, was sie getan haben und nicht für ihre Wunschvorstellungen, ohne Taten zu verrichten.

Verblendung in Bezug auf die eigenen Taten und die Taten von anderen
Verblendetsein (الغُرور) wird auch als Fachbegriff für eine Krankheit benutzt, die im Zusammenhang mit öffentlicher Arbeit auftritt:
Diese Art von Verblendung bedeutet, dass man nur seine eigenen Taten – oder die einer Gruppe, der man angehört – für bedeutend hält und die Taten anderer für schlecht und unbedeutend.
D. h. es ist eine schlimmere Stufe als das Eingebildetsein (arab. العجب), bei dem man sich selbst toll findet, jedoch keine Herabsetzung der Taten anderer oder der anderen als Person – wie beim Hochmut (arab.الكبر ) – stattfindet.
Diese Art von Verblendung kann auch auf Gruppen oder Parteien übergreifen, so dass Fanatismus und Streit entsteht. Die Anhänger einer Gruppe z. B. finden nur das gut, was ihre Führer oder Gelehrten tun, alles, was von anderen Gelehrten kommt, ist für sie schon von vornherein abzulehnen. D. h. nicht Objektivität bestimmt das Urteil, sondern Fanatismus.

Allah, der Erhabene, sagt:

er macht ihnen Versprechungen und erweckt Wünsche in ihnen, und was Satan ihnen verspricht, ist nur Trug [4:120]

Ohne Zweifel ist diese Denkweise eine Denkweise, die den Verstand teilweise außer Kraft setzt, denn es ist grundsätzlich so, dass in jeder Handlung von Menschen in der Regel positive und negative Aspekte enthalten sind.

Verblendung bei Gelehrten und ihren Anhängern
Besonders schlimme Auswirkungen hat dies, wenn die Anhänger einer islamischen Gruppe oder eines islamischen Gelehrten regelrecht feindschaftlich und respektlos gegenüber anderen Gelehrten sind – obwohl diese sich auch nach Koran und Sunna richten und nur möglicherweise eine etwas andere Herangehensweise an den Fiqh haben. Solche leichten Unterschiede in der Herangehensweise an den islamischen Fiqh hatten auch die Führer der klassischen Rechtsschulen Imam Abu Hanifa, Imam Malik, Imam Schafi’i und Imam Ahmad, möge Gott mit ihnen allen zufrieden sein.
Oft findet bei solchen Leuten eine regelrechte Zensur statt, so dass z. B. Bücher von anderen als den eigenen Gelehrten erst gar nicht in den eigenen Institutionen zugelassen werden bzw. offen gesagt wird:
„Nimm nichts von diesen Gelehrten an“.
Diese Krankheit befällt manchmal auch die Gelehrten selber, so dass sie – auch vor ihren Schülern – respektlos und subjektiv über die Ansichten anderer Gelehrten urteilen. Sie verbieten ihren Schülern, irgendetwas von anderen Gelehrten anzunehmen und machen diese schlecht. Die Folge ist, dass die Schüler Frechheit und Respektlosigkeit gegenüber Gelehrten lernen.
Außerdem ist auch Folgendes zu sagen: Wenn ein solcher Gelehrter seinen Schülern andauernd sagt: „Wir haben recht, hör den anderen erst gar nicht zu“, dann lernen seine Schüler oder Studenten auch nichts anderes. Wie kann man denn dann sagen: „Wir haben recht und die anderen liegen falsch“!?


Quelle: تزكية – Tazkija / Charakterreinigung – Wie man ein guter Mensch wird
Diese Buch basiert zumeist auf dem klassischen Werk Mukhtasar Minhādsch al-Qāsidīn von Ibn Qudama al-Maqdisi (651-689 n. H.).
Dieses ist eine Kurzfassung des Werkes Minhādsch al-Qāsidīn (Der Weg der Strebenden) von Ibn al-Dschauzi (510-594 n. H.), welches widerum eine Redigierung des Werks إحياء علوم الدين / Ihja’ Ulum ad-Din (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) von Abu Hamid al-Ghazali (450-505 n. H.) ist.