Al-Ghazali: Die erste Art der Liebe

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

Daß du einen Menschen um seiner selbst willen liebst.
Das ist wohl möglich und besteht darin, daß der andere an sich dir lieb ist, das heißt, daß du dich freust, ihn zu sehen, mit ihm bekannt zu werden und Zeuge der Eigenart seines Wesens zu sein, und zwar darum, weil du es schön findest. Denn alles Schöne erregt bei dem, der die Schönheit wahrnimmt, Lust, und alles, was Lust erregt, wird geliebt. Das als schön Empfundene kann entweder die äußere Gestalt, das heißt die Schönheit des Leibes, oder die innere Gestalt sein, das heißt die Vollkommenheit der geistigen und die Schönheit der sittlichen Anlagen. Aus dieser folgt Schönheit des Handelns, aus jener Reichtum des Wissens.

Alles das empfindet der natürliche Geschmack und der gesunde Verstand als schön; und alles, was als schön empfunden wird, gewährt Lust und wird geliebt. Allein bei der Verbindung des Herzens gibt es noch etwas anderes, das geheimnisvoller ist als dies. Zuweilen knüpft sich ein festes Band der Liebe zwischen zwei Menschen ohne Anmut der Gestalt oder Schönheit des Leibes oder Geistes, sondern infolge einer inneren Verwandtschaft, die Freundschaft und Einklang bewirkt, weil das Ähnliche von Natur zum Ähnlichen hingezogen wird. Was aber da im Innern vorgeht, ist geheimnisvoll und hat unbegreifliche Ursachen, in die Einsicht zu gewinnen menschlicher Kraft versagt ist.

Dies meint der Gesandte Allahs, da er spricht:

»Die Geister sind wie ausgehobene Truppen; die sich bekannt fühlen, tun sich zusammen; und die sich fremd fühlen, streben voneinander fort.«

Das Sichfremdfühlen hat seinen Grund in einer inneren Verschiedenheit, das Sichzusammentun in einer inneren Verwandtschaft, die er hier »Sichbekanntfühlen« nennt. Nach einem anderen Wortlaut heißt es:

»Die Geister sind wie ausgehobene Truppen, sie schnuppern nacheinander in der Luft, wenn sie zusammenkommen.«

Ein gelehrter Mann hat dasselbe im Bilde ausgedrückt und gesagt:

»Allah hat die Geister in Gestalt von Kugeln erschaffen und jede Kugel in zwei Hälften geteilt, die den Sphärenthron umkreisen. Wenn nun zwei Hälften sich dort wiedererkennen und zusammenkommen, so finden sie sich auch auf dieser Erde wieder.«

Der Gesandte Allahs spricht:

»Die Geister der Gläubigen finden einander auf eine Tagereise weit, ohne daß einer den anderen je gesehen hat.«

Man erzählt: In Mekka gab es eine Frau, die den Weibern Späße vormachte, und in Medina gab es auch eine solche. Als nun einst die Mekkanerin nach Medina kam, stieg sie sogleich bei jener Medinerin ab. Eines Tages kam sie zu Aischa, der Frau des Propheten, um ihr ihre Späße vorzumachen. Da fragte sie Aischa, wo sie abgestiegen sei. Als sie den Namen ihrer Gefährtin nannte, sprach Aischa:

Wie recht hat doch der Gesandte Allahs gehabt, da er sagte: „Die Geister sind wie ausgehobene Truppen …“ < und wie es oben weiter heißt.

Sicher ist, daß Augenschein und Erfahrung solche Verbindungen auf Grund einer Verwandtschaft bezeugen; die Verwandtschaft der Naturen und Charaktere aber, sei es eine innerliche oder eine äußerliche, ist eine bekannte Sache. Welche Gründe aber diese innere Verwandtschaft bewirken, das zu verstehen ist menschlicher Einsicht versagt, und es bleibt nichts übrig, als die Tatsache anzuerkennen.

Das törichte Gerede der Sterndeuter freilich besagt, wenn das Horoskop eines Menschen im Sextilscheine oder im Gedrittscheine zu dein eines anderen Menschen stehe, so sei das der Aspekt der Gunst und Liebe und bewirke innere Verwandtschaft und Liebe zueinander; Opposition und Geviertschein aber bewirke Haß und Feindschaft. Doch wenn das wahr wäre und solches in der Gewohnheit des göttlichen Wirkens läge, so wäre dies noch schwieriger zu begreifen als die Tatsache der Verwandtschaft selbst. Aber es hat keinen Sinn, sich mit Dingen zu befassen, deren Geheimnis zu ergründen dein Menschen doch versagt ist, »denn nur ein Weniges ist uns vom Wissen gegeben’«, Erfahrung und Augenschein mag uns zur Anerkennung der Tatsache genügen.

Es sind darüber auch Überlieferungen auf uns gekommen.
Der Gesandte Allahs spricht:

»Wenn ein Gläubiger in eine Versammlung tritt, wo hundert Heuchler und ein Gläubiger sind, so wird er sich von selbst zu diesem setzen; und wenn ein Heuchler in eine Versammlung kommt, wo hundert Gläubige sind und ein Heuchler, so wird er sich von selbst zu dem Heuchler setzen.«

Das beweist, daß jedes Wesen von Natur zu dein ihm ähnlichen hingezogen wird, auch ohne etwas davon zu wissen.

Malik ibn Dinâr sagt:

«Nie halten zwei Gesellschaft miteinander, die nicht irgendeine Eigenschaft gemeinsam haben. Die Menschen sind wie die Vögel, keine Art fliegt mit der anderen, wenn nicht eine Verwandtschaft zwischen ihnen besteht. Eines Tages sah ein Mann einen Raben mit einer Taube zusammen sitzen und wunderte sich, daß sie zusammenhielten, obwohl sie nicht von derselben Art waren. Als sie aber aufflogen, zeigte es sich, daß beide lahm waren. Da sagte er: >Also darum halten sie zusammen.<»

Ein Weiser sagt:

»Jeder Mensch hält sich zu seinesgleichen, so wie jeder Vogel mit seiner Art fliegt. Wenn zwei noch so lange zusammen sind, werden sie sich doch wieder trennen, wenn sie nicht irgendeine Ähnlichkeit miteinander haben.«

So kann also ein Mensch wohl einen anderen um seiner selbst willen lieben, nicht weil er einen Nutzen von ihm erhofft, sondern allein infolge der geheimen Übereinstimmung und Verwandtschaft ihrer inneren Naturen und ihres verborgenen Wesens.

Hierzu gehört auch die Liebe zur Schönheit, sofern nicht die Befriedigung der Begierde damit erstrebt wird. Denn schöne Gestalten gewähren schon an und für sich Lust, auch wenn man sich die Begierde ganz fehlend denkt. Gewährt doch selbst der Anblick von Früchten und Blüten und Blumen und Äpfeln mit einem roten Hauch und von fließendem Wasser und grünem Gefilde Genuß, ohne daß ein weiteres Begehren dahinter steht.

Diese Liebe aber hat mit der Liebe für Allah nichts zu tun, sondern es ist eine natürliche Liebe, ein bloßer Trieb der Seele, der auch bei dem denkbar ist, der gar nicht an Allah glaubt. Nur ist zu bemerken, daß, wenn sich mit ihr eine tadelnswerte Nebenabsicht verbindet, sie selbst tadelnswert wird, wie die Liebe zu einer schönen Gestalt, wenn dabei die Befriedigung unerlaubter Begierde erstrebt wird. Ist das aber nicht der Fall, so ist sie sittlich gleichgültig und unterliegt keinem wertenden Urteil. Denn alle Liebe ist entweder lobens- oder tadelnswert oder keines von beiden, das heißt sittlich gleichgültig.

(Quelle: Kimiya-i-Sadaat)