Al-Ghazali: Die zweite Art der Liebe

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

Daß man einen Menschen liebt, um durch ihn zu etwas anderem außer ihm selbst zu gelangen, als Mittel also zur Erreichung eines anderen geliebten Gegenstandes, wie wir ja das Mittel, das zum Geliebten führt, selbst zu lieben pflegen. Wenn wir ein Ding um eines anderen willen lieben, so lieben wir zwar in Wahrheit jenes andere, doch ist uns auch der Weg zu ihm liebenswert.

Darum lieben die Menschen das Gold und das Silber, obwohl beide an und für sich nichts Begehrenswertes an sich haben, denn man kann sie weder essen noch sich damit bekleiden; doch sind sie ein Mittel, zu liebenswerten Dingen zu gelangen. So werden auch manche Menschen gleich dem Golde und Silber geliebt als das Mittel, durch das man zu Ehre oder Geld oder Wissen gelangt. So liebt man wohl den Herrscher, weil man Gewinn von dessen Reichtum und Würde hat, und liebt die Hofleute, weil sie einen bei dem Herrscher empfehlen und in Gunst bringen. Besteht nun der also erlangte Nutzen nur in rein zeitlichen Gütern, so ist solche Liebe keine Liebe für Allah; besteht er zwar nicht nur in zeitlichen Gütern, werden aber doch nur diese erstrebt, so wie bei der Liebe des Schülers zum Lehrer, so gehört sie auch nicht zu der Liebe für Allah. Denn der Schüler liebt den Lehrer um der Kenntnisse willen, zu denen er durch ihn gelangt, und sie sind der wahre Gegenstand seiner Liebe.

Wenn er nun diese Kenntnisse nicht erstrebt, um Allah näher zu kommen, sondern um Ehre und Geld und Ansehen beim Volke zu gewinnen, so ist eben diese Ehre und das Geld und das Ansehen bei den Leuten das eigentlich von ihm Geliebte, und die Kenntnisse sind nur das Mittel dazu und der Lehrer wiederum nur das Mittel zur Erlangung der Kenntnisse. In alledem ist nichts von Gottesliebe, denn alles das ist denkbar auch bei einem, der gar nicht an Allah glaubt. Nun zerfällt auch diese Liebe wieder in eine tadelnswerte und eine sittlich gleichgültige. Denn wenn sich damit tadelnswerte Zwecke verbinden, wie etwa der, durch Bekleidung des Richteramtes oder dergleichen die Mitmenschen sich zu unterjochen, das Gut der Waisen zu rauben und das Volk zu unterdrücken, so ist die Liebe tadelnswert. Ist aber der erstrebte Zweck sittlich gleichgültiger Art, so ist es die Liebe auch, denn das Mittel erhält Wertung und Bedeutung durch den Zweck, den es vermittelt.

(Quelle: Kimiya-i-Sadaat)