Al-Ghazali: Die dritte Art der Liebe

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

Daß man den anderen zwar nicht um seiner selbst, sondern um eines anderen Dinges willen liebt, dieses andere aber nicht in zeitlichen, sondern in ewigen Gütern besteht.
Auch dies ist ganz klar: Wenn einer seinen Lehrer und Meister liebt, weil er durch seine Vermittlung Wissen erlangt und sein Wandel gebessert wird und in beidem sein Streben auf die Ewigkeit gerichtet ist, so ist er ein Liebender für Allah, ebenso wie der Lehrer, der seinen Schüler liebt, weil dieser die Lehre von ihm übernimmt und ihm dadurch zu der Würde eines Lehrers verhilft, so daß er gemäß dem Worte von Isa:

«Wer die Lehre weiß und danach handelt und sie andere lehrt, der wird mit Ehrfurcht genannt im Himmelreich»

, im Reiche des Himmels und der Erde durch ihn Ehre gewinnt. Denn Belehrung gibt es nur da, wo einer sich belehren läßt; darum ist dieser für den Lehrer das Mittel, jenen Vorzug zu erlangen. Wenn daher der Lehrer den Schüler liebt, weil er ihm dazu das Mittel ist und er sein Herz zum Saatfeld für seinen Samen machen kann, durch den er den Rang der Ehrung im Himmelreich erlangt, so ist er ein Liebender für Allah. Ja, wer von seiner Habe um Allahs willen Almosen gibt und Gäste zu sich lädt und mit schönen erlesenen Speisen bewirtet, um Allah nahe zu kommen, und darum einen Koch liebt, weil er gut kocht, oder einen Mann, der die Verteilung der Gaben an würdige Empfänger übernimmt, der ist ein Liebender für Allah.

Ja, ich sage noch mehr: Wer einen Menschen liebt, der ihn persönlich bedient, indem er seine Kleider wäscht, sein Haus fegt und sein Essen kocht, und ihn dadurch frei macht für die Wissenschaft und die Werke, und sich deshalb bedienen läßt, um sich ungestört dem Dienst Allahs widmen zu können, der ist ein Liebender für Allah.

Ja, ich sage noch mehr: Wenn einer einen Menschen liebt, der ihn mit Geld unterstützt, ihn mit Nahrung, Kleidung und Wohnung versieht und ihn mit aller irdischen Notdurft versorgt, damit er sich ungestört der Wissenschaft und den Werken, die ihn Allah nahe bringen, widmen kann, so ist er ein Liebender für Allah. So wurden manche der Alten durch reiche Leute versorgt, und dann waren der Versorger und der Versorgte beide Liebende für Allah.

Ja ich sage noch mehr: Wer ein frommes Weib zur Ehefrau nimmt, um durch sie vor der Versuchung des Satans bewahrt zu werden und seinen Glauben zu bewahren und um ein frommes Kind von ihr zu haben, das für ihn betet, und sie darum liebt, weil sie ihm ein Mittel zu diesen frommen Zwecken ist, der ist ein Liebender für Allah. Darum heißt es in den Überlieferungen, daß die Aufwendung für Weib und Kind reich belohnt wird, bis zu dem Bissen, den der Mann in den Mund seines Weibes legt.

Ja, ich sage noch mehr: Jeder, der ganz ergriffen ist von der Liebe zu Allah und dem, was ihm gefällt, und der Sehnsucht, zu ihm zu kommen im Land der Ewigkeit, wenn immer er einen anderen liebt, so ist er ein Liebender für Allah. Denn es ist nicht denkbar, daß er irgend etwas liebe anders als darum, weil es bezogen ist auf das, was er liebt, Allahs Wohlgefallen.

Ja, ich sage noch mehr: Wenn in eines Menschen Herzen beide Arten der Liebe sich zusammenfinden, die Liebe zu Allah und die Liebe zur Welt, und die Bedinigungen für beide sich ihm in einer Person erfüllen, die ihm zugleich auf dem Wege zu Allah und in den Dingen der Welt ein Vermittler ist, und er dann diesen Menschen um dieser beiden Dinge willen liebt, so gehört er zu den Liebenden für Allah. Wenn so einer seinen Lehrer lieb hat, der ihn in der Gotteslehre unterweist und ihm zugleich die irdischen Sorgen abnimmt durch Versorgung mit Geld und Gut, und er ihn deshalb liebt, weil es in seiner Natur liegt, nach Ruhe in dieser und nach Glückseligkeit in jener Welt zu streben, und jener ihm zu beiden das Mittel ist, so ist er ein Liebender für Allah.

Es ist also nicht Bedingung für die Liebe für Allah, daß sie kein zeitliches Gut lieben dürfe. Werden doch auch in den Bittgebeten, die den Propheten anbefohlen wurden, Güter sowohl dieser wie jener Welt genannt. So heißt es in einem Gebet:

»Herr, gib uns Gutes in dieser und Gutes in jener Welt!«

Und Isa betete:

»Herr, laß meine Feinde nicht über mich frohlocken und meine Freunde nicht übel an mir tun, behüte mich vor Schaden im Glauben und laß die Welt nicht meine größte Sorge sein.«

Daß aber die Feinde nicht frohlocken sollen, das ist ein irdisches Gut. Er sagt auch nicht:

»Laß die Welt gar nicht meine Sorge sein«, sondern: »Laß sie nicht meine größte Sorge sein.«

Und unser Prophet betete:

»Herr, ich bitte dich um Erbarmen, dadurch ich die Ehre deiner Begnadung in dieser und in jener Welt erlange«

und:

»Herr, behüte mich vor Schaden in dieser und in jener Welt.«

Wenn die Liebe zur Glückseligkeit in der Ewigkeit der Gottesliebe nicht zuwiderläuft, warum sollte ihr denn die Liebe zu irdischen Gütern, wie Heil und Gesundheit, des Leibes Nahrung und Notdurft und Begnadung in dieser Welt zuwiderlaufen? Sind doch Zeit und Ewigkeit nur zwei verschiedene Stufen des Daseins, deren eine uns nur näher ist als die andere. Und wie könnte man sich denken, daß ein Mensch zwar auf sein Heil für den morgigen Tag, nicht aber auf sein Heil für den heutigen bedacht wäre? Er ist auf sein Heil für den morgigen Tag doch nur deswegen bedacht, weil es dann etwas Bleibendes sein wird und das Bleibende auch etwas Erstrebenswertes ist.

Nun zerfallen freilich die zeitlichen Güter in solche, die den ewigen Gütern zuwiderlaufen und ihnen hinderlich sind, das sind die, vor denen die Propheten und Awliya sich gehütet haben und vor denen sich zu hüten ihnen anbefohlen wurde, und solche, die ihnen nicht zuwiderlaufen und deren jene sich nicht enthalten haben, wie eine rechte Ehe, das Essen erlaubter Speisen und dergleichen. Was aber dem ewigen Heil zuwiderläuft, das wird der Vernünftige verabscheuen/hassen und nicht erstreben, das heißt verabscheuen/hassen mit der Vernunft, nicht von Natur; so, wie der Vernünftige es unterlassen wird, von der süßen Speise auf dem Tische eines Fürsten zu naschen, wenn er weiß, daß ihn das die Hand oder den Kopf kosten würde; nicht, als ob er von Natur kein Verlangen nach der süßen Speise trüge und ihr Genuß ihm kein Vergnügen bereiten würde, das ist unmöglich, sondern weil ihn die Vernunft von dem Zugreifen abhält und er den Schaden verabscheut/hasst, der damit verbunden ist.

Wir meinen also:
Wenn einer seinen Lehrer liebt, weil er ihn versorgt und ihn zugleich unterweist, oder seinen Schüler, weil dieser sich von ihm belehren läßt und ihn zugleich bedient, so daß er zugleich ein zeitliches und ein ewiges Gut durch ihn gewinnt, so gehört er zu den Liebenden für Allah. Freilich muß dann die Liebe auch wirklich geringer werden, wenn etwa der Lehrer den Schüler von der Wissenschaft abhält oder ihm das Lernen unmöglich macht, und dann ist der Teil der Liebe, der damit fortfällt, Liebe für Allah und wird als solche angerechnet. Daß die Liebe zu einem Menschen, dem man deswegen zugetan ist, weil man eine Reihe von Vorteilen durch ihn genießt, geringer wird, wenn ein Teil dieser Vorteile wegfällt, und größer, wenn ihre Zahl sich vermehrt, das ist ja nichts Befremdliches. Man hat auch nicht die gleiche Menge Gold und Silber gleich gern, deswegen, weil das Gold mehr Güter vermittelt als das Silber.

Es ergibt sich also:
Die Liebe nimmt zu entsprechend der Zunahme der vermittelten Güter; die Vereinigung von zeitlichen und ewigen Gütern ist nicht unmöglich, und die Liebe, die sich darauf gründet, gehört zu der Liebe für Allah.

Es läßt sich also sagen:
jede Liebe, die ohne den Glauben an Allah und die Ewigkeit nicht denkbar ist, ist Liebe für Allah; ebenso ist jede Zunahme der Liebe, die erst durch den Gottesglauben möglich wird, eine Zunahme der Liebe für Allah. Aber diese Feinheiten kommen selten genug vor.

(Quelle: Kimiya-i-Sadaat)