Al-Ghazali: Die vierte Art der Liebe

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

Daß einer liebt nur um Allahs willen und für Allah, nicht um von dem Geliebten Belehrung und Erziehung zu genießen oder durch ihn zu irgend etwas anderem zu gelangen.

Das ist die höchste Stufe der Liebe und die unbegreiflichste und geheimnisvollste. Und auch sie ist möglich; denn der Überschwang der Liebe zeigt sich darin, daß sie von dem Geliebten auf alles überströmt, was mit ihm zusammenhängt und, wenn auch noch so ferne, Beziehung zu ihm hat. Wer einen Menschen mit großer Liebe liebt, der liebt auch den, der diesen Menschen lieb hat, und den, der von ihm geliebt wird; und liebt den, der dem Geliebten dient, und den, der ihn lobt, und den, der sich bemüht, sein Wohlgefallen zu gewinnen.

Einer der Alten sagt:

»Wenn ein Gläubiger einen Gläubigen lieb hat, so liebt er selbst seinen Hund.«

Und es ist so, wie er sagt. Das bezeugt die Erfahrung von dem Verhalten der Verliebten, und die Werke der Dichter beweisen es. So bewahrt der Liebende das Kleid des geliebten Menschen auf und behält es als Andenken an ihn, und liebt sein Haus, ja das Stadtviertel, in dem er wohnt, und seine Nachbarn.

So sagt Medschnûn aus dem Stamme der Beni Amir:

»An dem Hause geh ich vorbei, an dem Hause Leilas, Und küsse diese Wand und küsse jene. Nicht Liebe zum Hause hat mir das Herz verwundet, Nein, Liebe zu der, die im Hause wohnet.«

So beweisen Augenschein und Erfahrung, daß die Liebe von dem geliebten Menschen überströmen kann auf alles, was in seinem Umkreis liegt, mit ihm in Berührung kommt oder irgendeine, wenn auch entfernte, Beziehung zu ihm hat. Doch dazu gehört ein besonderer Überschwang der Liebe, die einfache Liebe reicht dazu nicht aus. Wie weit sich aber der Strom dieser überfließenden Liebe in dem Umkreis dessen, was den Geliebten umgibt und mit ihm in Berührung kommt, erstreckt, das hängt von dein Maß des Überschwangs und der Stärke der Liebe ab.

So ist es auch mit der Liebe für Allah. Wenn sie stark ist und das Herz so überwältigt und in Besitz nimmt, daß sie die Grenze der Leidenschaft erreicht, so strömt sie über auf jegliches Wesen außer ihm, weil jegliches Wesen außer ihm eine Spur seines allmächtigen Wirkens ist. Denn auch der, der einen Menschen liebt, liebt seine Schrift und seiner Hände Tun und alle seine Werke. Darum pflegte der Gesandte Allahs, wenn man Erstlinge von Früchten zu ihm brachte, damit über seine Augen zu streichen, sie mit Ehrerbietung zu behandeln und zu sagen:

»Sie kommen eben erst von unserem Herrn.«

Allah wird bald geliebt um der redlichen Hoffnung willen auf seine Verheißungen und die Gnadengaben, die man im Jenseits von ihm erwartet, bald um der Wohltaten und Gnaden willen, die er uns schon hier erwiesen hat, bald um seiner selbst und nicht um anderer Dinge willen. Das ist die wunderbarste und höchste Art der Liebe. Wie aber auch immer die Liebe zu Allah entstehen mag: Wenn sie stark wird, so strömt sie über auf alles, was mit ihm irgendwie in Zusammenhang steht, ja sie geht selbst über auf das, was an sich schmerzlich und widerwärtig ist. Denn das Übermaß der Liebe mildert das Gefühl des Schmerzes; die Freude über das Tun des Geliebten, weil sich dieses Tun doch auf ihn, den Liebenden richtet, wenn es auch Schmerz bereitet, übertäubt die Schmerzempfindung. So freut sich der Liebende, wenn der Geliebte ihn gleichsam im Groll schlägt oder kneift, denn die Liebe erregt solche Freude in ihm, daß das Gefühl des Schmerzes ganz darin untergeht.

Bei manchen Leuten nun erreichte die Liebe zu Allah ein solches Maß, daß sie sagten:

Es ist kein Unterschied zwischen Heimsuchung und Wohltat, denn beides kommt von ihm, und wir freuen uns über alles, was ihm gefällt.

Wir meinen also, daß die Liebe zu Allah, wenn sie stark ist, als Frucht hervorbringt die Liebe zu dem, der Allah recht dient in Wissenschaft oder Werken, und die Liebe zu dem, der eine Allah wohlgefällige Eigenschaft hat, sei es gute Sinnesart oder Wandel in der Zucht des Gesetzes. Jeder Gläubige, dessen Liebe auf die Ewigkeit und auf Allah gerichtet ist, wird, wenn er von zwei Männern, einem gelehrten Gottesdiener und einem unwissenden Übeltäter hört, sich dem ersteren zugeneigt fühlen und diese Zuneigung wird stärker oder schwächer sein, je nachdem sein Glauben und seine Liebe zu Allah stärker oder schwächer ist, und sie wird sich auch dann einstellen, wenn jene beiden in einem fernen Lande wohnen und der Liebende weiß, daß ihm von jenem weder Gutes noch Böses widerfahren kann, weder in dieser noch in jener Welt.

Solche Zuneigung ist Liebe für Allah und Liebe um Allahs willen, ohne anderen Gewinn; denn er liebt den andern ja nur darum, weil er Allah lieb und wohlgefällig ist, und weil er Allah lieb hat und sich seinem Dienst widmet. Ist freilich eine solche Liebe schwach, so geht keine sichtbare Wirkung von ihr aus, und sie bleibt unverdienstlich – ist sie aber stark, so treibt sie den Liebenden, des anderen Freundschaft zu suchen und ihm zu helfen und mit Gut und Blut und mit der Zunge für ihn einzustehen. Darin sind die Menschen verschieden nach dem Maße, wie ihre Liebe zu Allah verschieden ist.

Gäbe es Liebe nur um eines Vorteils willen, den man von dem Geliebten in Zeit oder Ewigkeit zu erlangen hoffte, so wäre es undenkbar, daß man längst gestorbene Gelehrte und Gottesmänner, oder die Genossen des Propheten und ihre Nachfolger, geschweige die Propheten längst vergangener Zeiten lieben könnte. Und doch wohnt die Liebe zu ihnen allen in dem Herzen jedes frommen Muslims. Das zeigt sich darin, daß er zornig wird, wenn eine dieser rechtschaffenden Personen von ihren Feinden angegriffen wird, und sich freut, wenn sie gepriesen und ihre Tugenden gerühmt werden. Alles das ist Liebe um Allahs willen, denn jene sind die vertrauten Diener Allahs. Wer aber einen König liebt oder einen schönen Menschen, der liebt auch dessen Vertrauten und Diener und liebt alle, die er liebt.

Geprüft aber wird die Liebe durch den Wettstreit mit dem eigenen Vorteil. Zuweilen wird die Seele so von Liebe überwältigt, daß sie ihren Vorteil nur noch in dem Vorteil des Geliebten findet.

So sagt der Dichter:

»Ich will zu ihm, doch er wünscht, daß ich gehe, So geb ich meinen Willen hin dem seinen.«

Und ein anderer:

»Die Wunde schmerzt nicht mehr, wenn sie dir wohlgefällt.«

Zuweilen ist die Liebe von solcher Art, daß um ihretwillen gewisse Vorteile aufgegeben werden, andere nicht, so wie wenn einer dem Geliebten die Hälfte seiner Habe oder ein Drittel oder ein Zehntel abzutreten bereit ist. Dann ist die Menge des hingegebenen Gutes der Maßstab der Liebe. Denn messen kann man die Größe der Liebe nur an einem anderen geliebten Gegenstand, der um ihretwillen aufgeopfert wird. Wessen Herz aber ganz von Liebe durchdrungen ist, der kennt nichts anderes Liebes mehr als den Einen und behält für sich gar nichts mehr. So behielt Abu Bakr, der Fromme, weder Kind noch Gut für sich, sondern gab seine Tochter hin, die seiner Augen Trost war, und all sein Hab und Gut.

So ergibt sich, daß jeder, der einen Gottesgelehrten oder einen Gottesdiener liebt, oder einen, der danach strebt, Wissen zu erwerben oder Allah zu dienen oder Gutes zu tun, ein Liebender für Allah und um Allahs willen ist; und je stärker seine Liebe ist, um so höher ist sein Verdienst.

Das ist, was über die Liebe für Allah und ihre Stufen zu sagen ist, und daraus wird der Haß für Allah von selber klar, doch wollen wir ihn noch des näheren erläutern.

(Quelle: Kimiya-i-Sadaat)