Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (8. Teil)

Fortsetzung des 7. Teils dieser Reihe.

Sodann …


In diese Klasse gehören auch die folgenden Verse:

„Zwei Männer , der eine ein Schneider , ein Weber der andere , stehen einander gegenüber im Sternbild der Jungfrau. Jener webt unaufhörlich den Riss eines Rückwärtsgehenden und es näht sein Genosse die Kleider des Vorwärtsgehenden.“

Hier wird eine astronomische Erscheinung ausgedrückt durch das Vorwärts- und rückwärtsgehen zweier Handwerker. [Es folgen ähnlich Beispiele die nicht aufgeführt werden]

Dass in solchen Fällen ein vom äusseren verschiedener Sinn vorliegt lehrt entweder die Vernunft oder die Offenbarung, ganz unmöglich ist, wie z.B. im Ausspruch des Propheten:

„Das Herz des Gläubigen ist zwischen zwei Finger des Barmherzigen“

; denn wenn wir die Herzen der Gläubigen untersuchen , so finden wir darin keinen Finger. Daraus ergibt sich, dass es nur ein bildlicher Ausdruck für die Allmacht Allahs ist, die hier im Grunde gemeint ist. Und der Ausdruck „Finger“ wurde gewählt , weil das ein besonders drastisches Mittel ist, um ein Begriff von der Vollkommenheit Seiner Macht zu geben.

Hierher gehört auch ein anderer uneigentlicher Ausdruck für die Macht Allahs nämlich die Koranstelle:

„Wenn wir ein Ding wünschen, so sprechen wir zu ihm nur Sei! so ist es“ (Sure 16/42)

diesen Ausspruch wörtlich zu nehmen, ist deshalb ausgeschlossen, weil der Imperativ „Sei!“ als Anrede an eine Sache, die noch nicht existiert, widersinnig wäre, denn was nicht existiert, versteht auch nicht auch nicht eine Mitteilung, um sie befolgen zu können; wenn die Sache aber bereits existiert, so braucht sie nicht erst geschaffen zu werden.

Weil jedoch dieser bildliche Ausdruck besonders eindrucksvoll ist, um die Allgewalt Allahs zur Anschauung zu bringen, so hat Er ihn gewählt. Der andere Fall, dass nämlich der wirkliche Sinn in positiver Weise bestimmt ist, liegt dann vor, wenn eine wörtliche Interpretation möglich wäre, die Überlieferung aber eine andere verlangt, wie z.B in der Erklärung des Wortes Allahs:

„Er schickte Wasser vom Himmel, da flossen die Täler, so weit sie waren.“ (Sure 13/18 und die darauffolgenden Verse worauf Bezug genommen wird in Laufe der Ausführung).

Denn mit dem Wasser vom Himmel ist hier der Koran gemeint und mit den Tälern die Herzen, von denen die einen viel fassen, andere wenig und wieder andere gar nichts. Und der Gischt ist ein Bild des Unglaubens; denn wenn er auch nach etwas aussieht und aufschäumt auf der Oberfläche des Wassers, so hat er doch keinen Bestand; die göttliche Leitung aber, die dem Menschen zum Heile dient, ist von Dauer. – in dieser Art der Auslegung sind manche sehr weit gegangen; indem sie das über die letzten Dinge Geoffenbarte allegorisch erklärten, so die Waage, die Brücke usw. das ist aber Irrlehre, da eine solche Erklärung keine Stütze in der Überlieferung (Hadithe) hat und die wörtliche Interpretation keinen Widerspruch enthält. Jene Ausdrücke sind daher wörtlich zu verstehen.

4. Ein vierter Fall ist der, dass jemand etwas zunächst ganz allgemein erkennt, im einzelnen durch eigentliches Innewerden, indem er es an sich selbst erlebt. Es besteht also ein Unterschied zwischen den beiden Erkenntnissen. Die Erste verhält sich wie die Schale, die zweite wie der Kern, die erste wie das Äussere, die zweite wie das Innere. wenn z.B im Auge jemands eine Person sich spiegelt in der Dunkelheit oder aus weiter Entfernung, so erlangt er gewiss eine Art Erkenntnis; wenn er diese Person aber dann in der Nähe sieht oder nachdem die Dunkelheit geschwunden ist, so merkt er den Unterschied zwischen beiden. Die zweite Erkenntnis steht aber nicht im Gegensatz zur ersten, sondern ist deren Vervollkommung.

So verhält es sich auch mit dem Wissen und dem Glauben und Fürwahrhalten (Überzeugung). Der Mensch glaubt an die Existenz der Liebe, der Krankheit, des Todes, bevor sie eintreten, aber sein eigentliches Wesen davon ist nach ihrem Eintreten vollkommener als zuvor. In Bezug auf Leidenschaft, Liebe und andere Seelenzustände, ist für den Menschen ein dreifaches Verhältnis denkbar, wonach auch die Erkenntnis verschieden sich gestaltet:

Erstens der blosse Glaube daran, bevor man sie hat;

zweitens, wenn man sie hat;

drittens, nachdem er gestillt ist.

So gibt es auch in der religiösen Erkenntnis Dinge, die vollkommenes Erlebnis werden, das ist dann gleichsam das Innere gegenüber dem vorhergehenden Zustand. So ist auch das wissen des Kranken von der Gesundheit ein anderes als das des Gesunden. Was die erwähnten vier Abteilungen betrifft, so unterscheiden sich darin die einzelnen Menschen, aber nirgends hebt dabei das Innere das Äussere auf, sondern vervollständigt es wie der Kern die Schale. Punktum.

5. Es kann durch die gesprochene Sprache die „Sprache der Tatsachen“ ausgedrückt werden. Ein beschränkter Kopf versteht da den Wortsinn und hält es für ein wirkliches Sprechen, wer aber der Sache auf den Grund sieht, der versteht, was eigentlich gemeint ist. So in den folgenden Sätzen:

„Es sprach die Wand zum Pflocke: warum durchbohrst du mich ? er sprach Frag´ den , der mich klopft und nicht in Ruhe mich lässt und schau nach dem Stein, der hinter mir.“

Hier ist durch die äussere Sprache die Sprache der Tatsachen ausgedrückt. So ist es auch in folgendem Wort Allahs :

„Dann sprach er zum Himmel und zur Erde : Kommt, gern oder ungern. Sie antworteten :Wir kommen gern.“ (Sure 41,10)

Der Einfältige muss, um das zu begreifen, bei Himmel und Erde Leben und Verstand vorraussetzen, damit sie die Anrede verstehen können, und diese selbst, damit sie die Anrede verstehen können, und diese selbst muss nach ihm aus Lauten und Buchstaben bestehen, damit Himmel und Erde sie hören und ebenso antworten können, indem sie sprechen: „Wir kommen gern“.

Aber der Einsichtige weiss, dass hier nur den Tatsachen eine Sprache verliehen wurde und der Sinn ist, dass sie mit absoluter Notwendigkeit gehorchen müssen. – Ähnlich im Wort Allahs:

„Es gibt nichts, was nicht sein Lob verkündet“ (Sure 17,46)

Auch hier muss der Einfältige, um die Lobesverkündigung zu begreifen, bei den leblosen Dingen Leben und Verstand und lautliches Sprechen vorraussetzen, damit sie sagen können: Gelobet sei Allah. Der Verständige aber weiss, dass kein Sprechen mit der Zunge gemeint ist, sondern dass sie sein Dasein preisen, sein Wesen verherrlichen und seine, des Allerhöchsten, Einheit bezeugen gemäss dem Dichterwort:

„In jeglichem Ding ist für ihn ein Vers, beweisend, dass er einzig ist“ (Abu-l Atahiya)

So sagt man auch wohl Dieses vollendete Kunstwerk bezeugt das ausgezeichnete Können und das vollkommene Verständnis des betreffenden Künstlers, nicht in dem Sinne, als ob es wirklich die Worte spräche: „Ich bezeuge“, sondern das Zeugnis liegt in seinem Wesen und seiner Beschaffenheit. Es gibt nämlich nichts, was nicht für sich einen Urheber brauchte, der es hervorbringt und seine Eigenschaften im Dasein erhält und seine verschiedenen Wandlungen es durchmachen lässt. So bezeugen die dinge durch ihre Bedürftigkeit die Bedürfnislosigkeit ihres Urhebers.

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