Teil 2: Imam al-Ghazali – Die Pflichten gegen den Nachbarn

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM


Die Nachbarschaft begründet noch ein Recht mehr als die Bruderschaft des Islam allein.
Der Gesandte Gottes spricht:
»Es gibt einen Nachbarn, der ein Recht hat, das ist der ungläubige Nachbar; und einen, der zwei Rechte hat, das ist der muslimische Nachbar; und einen, der drei Rechte hat, das ist der muslimische Nachbar, der mit dir verwandt ist.«

Du siehst, daß er selbst für den Ungläubigen ein Recht festsetzt auf Grund der bloßen Nachbarschaft.
Und weiter spricht er:
»Gabriel schärfte mir das Recht des Nachbarn so ein, daß ich glaubte, er würde ihm noch das Recht zugestehen, mich zu beerben.«

Und weiter:
»Wer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt, der ehre seinen Nachbarn.«

Und weiter:
»Niemand ist gläubig, solange nicht sein Nachbar vor aller Kränkung durch ihn sicher ist.«

Und weiter:
»Die ersten beiden Gegner, die am Jüngsten Tag einander gegenübergestellt werden, werden zwei Nachbarn sein.«

Und weiter :
»Wenn einer mit einem Steine nach dem Hund seines Nachbarn wirft, so kränkt er ihn selber damit.«

Man sagte zu dem Gesandten Gottes: »Diese Frau fastet am Tage und betet in der Nacht, aber sie kränkt ihre Nachbarn.« Da sagte er: »So gehört sie ins Höllenfeuer.« – Und er sagte: »Bis zum vierzigsten Hause gilt die Nachbarschaft«
und Suhri(1) setzte hinzu:
»Bis zum vierzigsten Hause nach vorn und nach hinten, nach links und nach rechts. «

Und wisse:
Die Pflicht gegen den Nachbarn besteht nicht nur darin, daß du ihn nicht kränkst, sondern du sollst dem Nachbarn auch Gutes tun.
Denn es heißt in der Überlieferung:
»Am Jüngsten Tage wird sich der arme Nachbar an den reichen hängen und sprechen: >O Herr, frage ihn, warum er mir nichts Gutes getan und seine Tür vor mir verschlossen hat. <«

Einer der großen Frommen wurde in seinem Hause von Mäusen belästigt. Man fragte ihn:
»Warum hältst du keine Katze?«
Da sagte er: »Ich fürchte, daß die Mäuse die Katze hören und sich in das Haus des Nachbarn begeben werden, und dann laß ich ihm geschehen, was ich selbst nicht ertragen will.«

Der Gesandte Gottes sprach:
»Wißt ihr, was die Pflicht des Nachbarn gegen den Nachbarn ist? Wenn er dich um Hilfe bittet, so hilf ihm; wenn er von dir etwas entleihen will, so leihe es ihm; wenn er arm ist, so unterstütze ihn; wenn er krank ist, so besuche ihn; und wenn er stirbt, so gib ihm das Grabgeleit. Wenn er eine Freude erlebt, beglückwünsche ihn, wenn ihn ein Unglück betroffen hat, so drücke ihm dein Beileid aus. Verbaue ihm nicht den Zugang zum Wind; wenn du Früchte kaufst, so schicke ihm davon, und wenn du das nicht kannst, so halte sie verborgen und leide nicht, daß dein Kind davon nimmt und damit vor die Türe geht, so daß sich des Nachbars Kind darüber ärgert. Ärgere ihn auch nicht mit dem Duft deines Kochtopfes, sondern schicke ihm auch etwas.«

Und weiter sagt er:
»Wißt ihr, worin die Pflicht gegen den Nachbarn besteht? Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist, die Nachbarpflicht kann nur der erfüllen, dem Gott Gnade geschenkt hat.«
Zur Pflicht gegen den Nachbarn gehört auch, daß du nicht vom Dach herab in sein Haus hineinsiehst; und wenn er Holz auf deine Mauer legt, sollst du ihn nicht daran hindern, ihm auch den Rinnstein nicht versperren und nicht zanken, wenn er Schutt vor dein Haus schüttet. Auch sollst du die Blöße bedecken, die du bei ihm gewahr wirst, und nicht heimlich über ihn reden und sollst den Blick vor den Frauen seines Hauses niederschlagen und seihe Dienerin nicht viel betrachten. Alles dieses mußt du beachten außer den Pflichten gegen alle Muslime, die wir aufgezählt haben.
Mudschâhid(2) erzählt:
»Ich war bei Abdallâh ibn Omar, als gerade einer seiner Sklaven sein Schaf abzog. Da sagte er zu dem Sklaven: >Wenn du es fertig abgezogen hast, so biete zuerst unserem Nachbarn, dem Juden, an<, und das sagte er mehrmals, bis der Sklave sprach: >Wie oft willst du es noch sagen?< Da sagte er: >Der Gesandte Gottes hat uns die Pflicht gegen den Nachbarn so oft eingeschärft, daß wir am Ende fürchteten, er werde ihm noch ein Erbrecht zugestehen.<«
Und Hischâm(3) sagt:
»Hasan el-Basri(4) fand nichts Böses darin, daß man dem jüdischen und christlichen Nachbarn vom Fleisch des großen Opfertages abgebe.«

Abu Dharr erzählt:
»Der Prophet gab mir die Mahnung: >Wenn du kochst, so setze reichlich Wasser auf und schicke dem Nachbarn.< «

Jemand sagte zu Abdalläh ibn Mubârak(5):
»Mein Nachbar beklagt sich über meinen Sklaven; wenn ich nun züchtige, ohne Beweisgrund, so tue ich Unrecht, züchtige ich ihn aber nicht, so nimmt es mein Nachbar übel. Was soll ich nun tun?«
Da sagte jener:
»Warte, bis dein Sklave einmal einen Streich begeht, der Züchtigung verdient, das hebe ihm dann auf, bis sich dein Nachbar über ihn beklagt, und dann züchtige ihn. Dann hast du beiden Recht getan.«

(1) berühmter Lehrer der Umajjadenzeit (gest. 124 n.H.)
(2) bekannter Gelehrter der Nachfolgergeneration (gest. Um 100 n.H.)
(3) ibn Hassan, Überlieferer (gest. 181 n.H.)
(4) berühmter religiöser Lehrer des ersten Jahrhumderts (gest. 110 n.H.)
(5) Sufi (gest. 181 n.H.)


(Kimiya-i-Sadaat / al-Ghazali)