Wesensanalyse von Imam al-Ghazali (3. Teil)

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

 

Teil 3: Die Charaktereigenschaften und Neigungen
Aus Kimiya-i-Saadat vom Imam al-Ghazali -rahimahullah-
Überarbeitet von Yahya ibn Rainer

Wisse: Das Herz ist mit jeder dieser Streitkräfte, die in seinem Innern wohnen, durch eine besondere Beziehung verbunden, durch jede von ihnen entsteht in ihm eine besondere Charaktereigenschaft. Die einen dieser Eigenschaften sind schlecht und stürzen den Menschen ins Verderben, die anderen sind gut und führen ihn zur Glückseligkeit.
Alle diese Eigenschaften aber, so viel ihrer auch sind, zerfallen insgesamt in vier Arten:

  1. Eigenschaften des Viehs
  2. Eigenschaften der Raubtiere
  3. Eigenschaften der Teufel und
  4. Eigenschaften der Engel

Denn da die Kraft der Begierde in den Menschen gelegt ist, tut er die Werke des Viehs, das gierige Sichvollessen und Begatten; und da die Kraft des Zornmutes in ihn gelegt ist, tut er die Werke des Hundes, Wolfs und des Löwen, das ist Schlagen, Töten und die Menschen anfallen mit der Hand und mit der Zunge.

Da die Anlage zu Trug und List, Verstellung und Verführung der Menschen in ihn gelegt ist, tut er die Werke der Teufel, und da die Vernunft in ihn gelegt ist, tut er die Werke der Engel, das sind: Wissenschaft und frommen Wandel lieben, alles hässliche Tun meiden, nach Eintracht unter den Menschen streben, sich zu edel und hoch für schimpfliche Taten achten, sich freuen an der Erkenntnis Allahs in seinen Werken, sich schämen der Torheit und Unwissenheit. So kann man sagen, dass in der Natur des Menschen vier Wesen zusammen wohnen:

  1. ein Hund
  2. ein Schwein
  3. ein Teufel und
  4. ein Engel

Der Hund ist hässlich und abscheulich, nicht wegen seiner äußeren Gestalt, seiner Beine und seines Fells, sondern wegen seiner Eigenschaft, die Menschen anzufallen.
Auch das Schwein ist abscheulich, nicht wegen seiner äußeren Gestalt, sondern wegen seiner Leidenschaft und Gier nach schmutzigen und gemeinen Dingen. Von solcher Art ist der Hunde- und Schweinegeist, und ihn hat der Mensch in sich, und ebenso, wie wir beschrieben haben, ist auch der Teufel- und der Engelsgeist. Es ist aber dem Menschen geboten, mit dem Lichte der Vernunft, welches ein Abglanz von dem Lichte der Engel ist, die List und Verstellung des Teufels aufzudecken, damit er gedemütigt dastehe und ihn nicht mehr verführen kann, so wie der Gesandte Allahs sagt:

„Jeder Mensch hat seinen Teufel, auch ich habe meinen, doch Allah hat mit zum Siege über ihn geholfen, so dass ich ihn gebändigt halte und er mir nichts Böses mehr befehlen kann.«

Weiter ist ihm geboten, das Schwein der Begierde und den Hund des Zornmutes zu bändigen und unter die Aufsicht der Vernunft zu stellen, so dass sie ohne ihren Befehl sich nicht regen können. Wenn er so verfährt; dann entstehen in ihm jene guten Eigenschaften, die zum Samen seiner Glückseligkeit werden. Handelt er aber anders und macht er sich zu ihrem Sklaven, so entstehen in ihm die bösen Eigenschaften, die zum Samen seines Elends werden. Würde ihm dann im Schlafen oder im Wachen sein Zustand im Bilde gezeigt, so sähe er sich zum Dienste vor einem Schweine oder einem Hunde oder einem Teufel aufgeschürzt. Wenn ein Mensch einen Muslim gefangen der Hand eines Ungläubigen überlässt, so weiß man, wie es um ihn steht. Wer aber einen Engel in der Gefangenschaft eines Hundes, eines Schweins und eines Teufels schmachten lässt, mit dem steht es noch viel schlimmer. Die meisten Menschen stehen freilich, wenn man gerecht richtet und Abrechnung hält, Tag und Nacht nur zum Dienste ihrer Lüste aufgeschürzt, und ihr Zustand ist so, wie wir geschildert haben, mögen sie auch äußerlich der Gestalt des Menschen gleichen. Morgen aber, am Tage der Auferstehung, wird es ans Licht kommen, und die Gestalt wird dem Sinn entsprechen. Den Menschen, der von der Begierde und Leidenschaft beherrscht war, wird man in der Gestalt eines Schweins sehen, und den, den der Zornmut beherrschte, in der Gestalt eines Hundes oder Wolfs. Das ist der Grund, warum ein Wolf oder Hund, den man im Traume sieht, einen gewalttätigen Menschen, ein Schwein einen schmutzigen Menschen bedeutet. Denn der Schlaf ist das Abbild des Todes; in dem Maße, wie der Schläfer durch den Schlaf dieser Welt entrückt wird, folgt die Gestalt dem Sinn, so dass er dann jeden Menschen in der Gestalt sieht, die seinem inneren Wesen entspricht. Doch das ist ein großes Geheimnis, dessen Erklärung über den Rahmen dieses Buches hinausgeht.

Da du nun weißt, dass in deinem Innern diese vier Gewaltigen und Befehlshaber wohnen, so beobachte dich selbst in deinem Tun und Lassen und sieh zu, welchem von den vieren du gehorchst, und erkenne recht, dass durch jede Handlung, die du begehst, eine Eigenschaft in deinem Herzen entsteht, die darin bleibt und dich in die andere Welt begleitet. Diese Eigenschaften nennt man Charaktereigenschaften, und alle Charaktereigenschaften entstehen also aus jenen vier Gewaltigen. Wenn du dem Schwein der Begierde gehorchst, so entstehen in dir die Eigenschaften der Unsauberkeit, Schamlosigkeit, Gier, Schmeichelei, Niedrigkeit, Missgunst, Schadenfreude und andere. Bändigst du aber die Begierde und hältst sie in Zucht und Gehorsam, so entstehen in dir Genügsamkeit, Selbstbeherrschung, Schamhaftigkeit, Gehorsam, Höflichkeit, Keuschheit, Mäßigung und Unbegehrlichkeit. Gehorchst du dem Hunde Zornmut, so entstehen in dir Unbesonnenheit, Großsprecherei, Hochmut, Großmannssucht, Geringschätzung und Verachtung der Mitmenschen und Streitsucht, Hältst du aber den Hund in Zucht, so entstehen Geduld, Ausdauer, Nachsicht, Standhaftigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Mut und Edelmut. Gehorchst du dem Teufel, dessen Sinnen und Trachten stets darauf gerichtet ist, den Hund und das Schwein aufzuhetzen und frech zu machen und List und Ränke zu lehren, so entstehen in dir die Laster der Hinterlist, der Treulosigkeit, der Verführung zum Schlechten, der Falschheit, Verschlagenheit, Verstellung und Betrügerei. Hältst du ihn aber gebändigt und lässt dich durch seine Betrügerei nicht täuschen und kommst der Streitkraft der Vernunft zu Hilfe, so entstehen in dir Klugheit, Kenntnis, Wissen, Weisheit, Rechtschaffenheit, gute Sinnesart, Seelengröße und Herrschersinn. Diese guten Eigenschaften in dir gehören zu den guten, dauernden Dingen und sind der Samen der Glückseligkeit. Die Handlungen, aus denen der schlechte Charakter entsteht, nennt man Sünde, und die, aus denen der gute Charakter entsteht, Gehorsam; und alles Tun und Lassen der Menschen gehört immer einer dieser beiden Klassen an. Das Herz gleicht einem klaren Spiegel, diese hässlichen Eigenschaften aber dem Ruß und der Dunkelheit, die ihn trübe machen, so dass es die Gottheit nicht sehen kann und von ihr geschieden bleibt. Die guten Eigenschaften aber sind gleich einem Lichte, das in das Herz dringt und es reinigt von aller Sünde und Finsternis. Darum spricht der Gesandte Allahs.

»Lass auf jede schlechte Tat eine gute folgen, auf dass sie sie auslöscht«;

denn am jüngsten Tage wird das Herz entweder dunkel oder licht auf dem Felde der Auferstehung erscheinen.

An dem Tage, da weder Besitz noch Söhne (etwas) nützen, sondern nur der (gerettet werden wird), der mit reinem Herzen zu Allah kommt.
26:88-89

In seiner ursprünglichen Anlage gleicht das Herz dem Stahl, daraus man einen blanken Spiegel machen kann, in dem das Bild der ganzen Welt erscheint, wenn er nach Gebühr gehütet wird. Lässt man aber den Stahl verkommen, so wird er rostig und taugt nicht mehr zum Spiegel. Darum heißt es im Worte Allahs:

Nein, jedoch das, was sie zu tun pflegten, hat auf ihre Herzen Schmutz gelegt.
83:14

Wenn du nun sagst:
»Wenn im Menschen die Eigenschaft des Viehs, der Raubtiere, der Teufel und der Engel vereinigt sind, woher weiß ich dann, dass sein eigentliches Wesen die Substanz der Engel ist, und dass die anderen ihm fremd und zufällig sind, und woher weiß ich, dass er dazu geschaffen ist, in sich die Eigenschaften der Engel zur Entfaltung zu bringen, und nicht die anderen?«,
so wisse:
Das erkennst du durch die Einsicht, dass der Mensch etwas Edleres und Vollkommeneres ist als das Vieh und die Raubtiere. Jedes Ding aber, für das es eine ideale Vollkommenheit gibt, die die höchste Stufe darstellt, die es erreichen kann, ist für diese Stufe der Vollkommenheit geschaffen.
So ist das Pferd etwas Edleres als der Esel, denn der Esel ist geschaffen zum Lasten tragen, das Pferd aber dazu, in Kampf und Streit unter dem Reiter, so wie es sich gebührt, zu laufen und zu traben. Zwar ist auch ihm die Kraft gegeben, Lasten zu tragen, wie dem Esel; doch ist ihm noch eine höhere Vollkommenheit gegeben, die dem Esel nicht gegeben ist, und wenn es unfähig ist, die Stufe seiner Vollkommenheit zu erreichen, so macht man ihm einen Tragsattel, und es sinkt auf die Stufe des Esels herab. Das aber bedeutet für das Pferd Verkümmerung und Untergang.

So meinen manche Leute, dass der Mensch zum Essen, Schlafen und Begatten geschaffen sei und damit das ganze Leben hinbringen solle. Andere wieder wähnen, er sei geschaffen, um andere zu besiegen, zu unterwerfen und zu beherrschen, wie die Araber, Türken und Kurden. Aber beide Meinungen sind verkehrt, denn Essen und Begatten geschieht durch die Begierde, und die ist auch den Tieren gegeben. Ja die Tiere übertreffen den Menschen sogar im Essen, und im Begatten bringen es die Spatzen weiter als der Mensch. Warum sollte also deswegen der Mensch von edlerem Range sein als sie? Besiegen und Unterwerfen aber geschieht durch den Zornmut, und der ist auch den Raubtieren gegeben. So besitzt der Mensch alles, was den Raubtieren und dem Vieh gegeben ist; aber darüber hinaus ist ihm noch ein Vorzug gegeben: die Vernunft, mit der er Allah erkennen und Allahs wunderbares Wirken wahrnehmen und sich selbst von der Gewalt des Zornmutes und der Begierde befreien kann. Das aber ist die Eigenschaft der Engel, und durch diese Eigenschaft herrscht der Mensch über das Vieh und die Raubtiere, und sie sind ihm dienstbar samt allem, was auf Erden ist, wie es im Worte Allahs heißt:

Hast du denn nicht gesehen, dass Allah euch alles, was es auf und in der Erde gibt, dienstbar gemacht hat?
22:65

Das wahre Wesen des Menschen ist also das, worin seine Vollkommenheit und sein Adel besteht. Die anderen Eigenschaften aber sind ihm fremd und nur geliehenes Gut und sind ihm nur zur Hilfe und Unterstützung gesandt. Daher kommt es, dass, wenn der Mensch stirbt, weder Zornmut
noch Begierde bleiben; aber seine Substanz bleibt, entweder klar und licht, geschmückt mit der Erkenntnis Allahs und von der Art der Engel, um ihr Gefährte und ein Glied jener himmlischen Schar zu werden, die ewig die Gegenwart der Gottheit genießt

…in einem würdigen Wohnsitz in der Gegenwart eines Mächtigen Königs.
54:55

, oder aber dunkel und beschämt das Haupt nieder senkend; dunkel, weil sie durch die Finsternis der Sünde mit Rost bedeckt ist, beschämt sein Haupt nieder senkend, weil er seine Seele zur Ruhe gesetzt hatte mit Begierde und Zornmut. Alles aber, woran seine Begierde hing, hat er auf dieser Welt zurücklassen müssen. Darum ist sein Antlitz dieser Welt zugewandt, weil dort das Ziel seines Begehrens und Strebens liegt. Diese Welt aber liegt unter jener Welt, und darum muss er sein Haupt nieder senken. Das ist der Sinn des Wortes Allahs:

Könntest du nur sehen, wie die Schuldigen ihre Köpfe vor ihrem Herrn hängen lassen werden
32:12

Dieses Menschen Aufenthalt wird im »Kerker« bei den Teufeln sein. Aber nicht jeder weiß, was »Kerker« bedeutet; darum heißt es im Worte Allahs:

Und was lehrt dich wissen, was Sidschdschin (der tiefe Kerker) ist?
83:8

Die Wunder der Welt des Herzens sind unendlich viele an Zahl. Auf einem aber beruht des Herzens Adel, das ist vor allem wunderbar, wenn auch die meisten Menschen seiner nicht achten.