BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM
Zentraler Mittelpunkt des menschlichen Wesens ist seine TRIEBSEELE bzw sein EGO (arab.: an-Nafs). Wer es schafft sein Nafs zu erziehen, der entzieht dem Schaytan die Grundlage seines Wirkens. Die Gelehrten des Islams haben sich ausführlich mit dem Nafs auseinandergesetzt und haben die Stufen seiner Erziehung klassifiziert. Der folgende Texte ist ein Ausschnitt aus der Publikation Das Menschen- und Seelenbild im Islam oder Grundzüge einer islamisch pädagogischen Psychologie von Dr. Samir Suleiman und Dipl. Psychologin Chawla Muhammad (www.qalam.de). Und ich nenne ihn…
Die Triebseele (an-Nafs) und die Stufen ihrer Erziehung
Betrachten wir nun also die TRIEBSEELE bzw das EGO (arab.: An-Nafs), so ist zunächst einmal festzuhalten, dass dies jener Teil des Menschen ist, der ihn insofern zur Person werden lässt, als er ihm ein „Ich“ verleiht. Auch ist es jener Bereich, der in besonderem Maße mit dem Körper verknüpft ist und den Menschen dazu bewegt, seine körperlich-biologischen Bedürfnisse zu stillen. Auf diese Weise kommt dem Ego hier zum Beispiel im Rahmen des Selbsterhaltungstriebs eine sinnvolle Aufgabe zu, indem der Mensch sich als eine Person begreift, die es zu erhalten gilt.
Das Ego hat jedoch auch seine Tücken im „System Mensch“. Es ist nämlich auch das Einfallstor des Schaitan (des Teufels) in das Innere des Menschen. Über das Triebhafte versucht der Schaitan den Menschen von seiner eigentlichen Aufgabe – dem Dienst gegenüber Allah (t) – abzubringen, ihm das Schlechte schönzureden, auf das Ego entsprechend einzuwirken, es gegenüber der Ratio (dem Verstand arab. al-Aql) und dem Herzen zu stärken und zugleich auch von diesen beiden Besitz zu ergreifen. Zur Vorgehensweise des Schaitan lesen wir im Qur`an z. B.:
„ (…) und der Schaitan hat ihnen ihre Werke ausgeschmückt und hat sie vom Weg Allahs abgehalten (…)“
27:27
Und mit Blick auf diejenigen, die sich den niederen Gelüsten ihres Nafs hingeben, und andererseits diejenigen, die Allah (t) gegenüber mit Taqwa begegnen und ihr Nafs entgegen dem Willen das Schaitan vom Triebhaften fernhalten, liest man im Qur`an in ungefährer Übersetzung z.B.:
„Wer (aber aufsässig) war und das irdische Leben vorzog – so wird wahrlich al-Dschahim (Höllenfeuer) seine Herberge sein. Wer aber das Stehen vor seinem Herrn gefürchtet hatte und sein Nafs von niederem Gelüst abhielt – so wird al-Dschannat (das Paradies) sicherlich (seine) Herberge sein.“
79:40
Problematisch wird das Ego (arab.: An-Nafs) also, falls es durch die Einwirkungen des Schaitan darauf ausgerichtet wird, sich in Übertretung der Gebote Allahs der Erfüllung egoistischer, körperlicher Triebe zu widmen und in diesem Kontext danach bestrebt ist, sich zum herrschenden Element im Menschen zu machen, indem es, geleitet von der Gier nach Trieb- und Selbsterfüllung, den GEIST und dessen oben genannten Bestandteile einschließlich der angeführten Instrumente des GEWISSENS unter seine Kontrolle bringt. In diesem Fall wird der Mensch maßgeblich von seinem Ego geleitet. Der eigentliche, und als einziger den Tod überdauernde Bestandteil – also der Geist – wird in einem solchen Fall regelrecht versklavt. Weder die Ratio noch das Gewissen und dessen Instrumente können sich entsprechend ihrer göttlichen Sinngebung entfalten. Vielmehr werden sie so zur Stillung an sich niederer Gelüste missbraucht. Das Gewissen wird systematisch abgetötet, seine Instrumente (Gedächtnis, Gefühle und Wille) werden vom Ego zur Befriedigung seiner eigenen Gelüste missbraucht – und die Ratio schließlich wird für die Planung von Schlechtigkeiten instrumentalisiert, sofern sie nicht gar völlig berauscht und somit mundtot gemacht wird. [Eben deshalb hängt das islamische Verbot von Berauschendem eng zusammen mit dem von der islamischen Schari´a vorgesehenen Schutz des menschlichen Intellekts (Al-´Aql), einem ihrer Hauptzielsetzungen (Dharuriyyat).]
Neben dem Schaitan existieren jedoch im Menschen auch positive Kräfte, die auf das Ego erzieherisch einwirken. Diese gehen vom Geist aus. So ist es zum Beispiel insbesondere die Ratio, die das Ego zurechtweist. Die Taqwa als das Ergebnis der schöpfungsgemäßen Verwendung der Instrumente des Gewissens wirkt auf das Ego in Form des Dschihadu-n-Nafs (dem Kampf gegen das Ego) ein.
Je besser der Geist in diesem Kampf gewappnet ist, desto besser kann er sich zum eigentlichen Herrscher des menschlichen Individuums machen. Seine Waffen sind dabei seine Ratio, sein Wissen um Allah (t), seine Gefühlswelt, die auf die Liebe zu Allah (t) ausgerichtet ist und schließlich auch sein Wille, mit dem der Muslim der Zielsetzung des Gottesdienstes gerecht zu werden versucht.
Je stärker der Iman und damit die Taqwa sind, desto kleiner und schwächer wird das Ego und damit auch die Angriffsfläche für den Schaitan. In diesem inneren Kampf des Menschen, der sich zwischen dem Schaitan und der Taqwa abspielt, wobei jede Seite versucht, die Oberhand für sich zu gewinnen, werden dem Ego von islamischen Gelehrten oft insgesamt acht Erziehungsstufen zugeschrieben, in denen sich die Erziehung dieses Nafs abspielt, wobei der Iman des Muslim dabei erheblichen Schwankungen unterliegen kann:
1) Die erste und niederste Stufe ist jene des völlig vom Schaitan beherrschten Egos, die Stufe des „Nafsu-l-ammaratu bis-Su`“. Hier hat der Schaitan die völlige Kontrolle über den Menschen. Der Mensch sieht als einzigen Sinn seiner Existenz die Erfüllung seiner Begierden, Triebe und Gelüste. Es handelt sich hierbei um einen Zustand der völligen Widerstandslosigkeit gegenüber dem Schaitan. Das Nafs herrscht über den Rest des Menschen.
2) Die zweite Stufe ist die eines so genannten „Nafsun hayyawaniyya“, also eines tierisch-triebhaften Egos. In dieser Stufe ähnelt der Mensch einem Tier. Zwar mag es sein, dass er hier nicht aus wirklich boshafter Absicht heraus handelt, wie dies in der ersten Stufe der Fall ist, allerdings geht seine Existenz und der Sinn seines Lebens nicht viel weiter über die der Tiere hinaus. Gleich einem Weidetier rennt er den schmackhaftesten Grasbüscheln hinterher und ist einzig und allein auf die Befriedigung seiner körperlichen Triebe ausgerichtet.
Diese Überlegungen machen übrigens deutlich, dass das Ego der oben beschriebenen ersten und niedersten Stufe den Menschen vor Allah (t) zu einem Geschöpf gleich oder noch niederer als dem Tier macht. So liest man etwa im Qur`an zu denjenigen, die vom Wege Allahs abgeirrt sind:
„Und wir haben wahrlich viele Dschinn und Menschen erschaffen, deren Ende die Höllenstrafe sein wird! Sie haben Herzen, mit denen sie nicht begreifen, und sie haben Augen, mit denen sie nicht sehen, und sie haben Ohren, mit denen sie nicht hören; sie sind gleich dem Vieh; nein sie sind noch irrender. Sie sind wahrlich unbedacht.“
7:179
3) In der dritten Stufe beginnt zum ersten Mal das eigentlich-menschliche des Menschen, nämlich das Gewissen, zu wirken, während in den vorhergehenden Stufen der Geist vom Ego ja geradezu unterjocht wurde und folglich keine ernstzunehmende Aufgabe wahrnehmen konnte.
Das Ego der dritten Stufe trägt den Namen des „Nafsu-l-lawwama“, zu Deutsch des „sich tadelnden Egos„. Denn hier beginnt der Mensch, ob nun Muslim oder Nicht-Muslim, unter der Einwirkung seines Gewissens sich selbst bzw. sein Verhalten zu tadeln. Es beginnt ihm leid zu tun, dass er seine Mitmenschen zum Beispiel verletzte, sie belog oder beklaute. Im Gegensatz dazu versucht er dann mehr oder minder erfolgreich unter Anleitung seines Gewissens vielleicht Gutes zu tun bzw. Fehler zu korrigieren. Problematisch ist in dieser Stufe, dass er dies eventuell auch nur wieder zur Beruhigung seines Nafs tut, und somit wieder in dessen Dienst.
4) Die vierte Erziehungsstufe des Egos ist jene des sogenannten „Nafsun mardhiyya“. Ab dieser Stufe beginnt der Mensch als „Muslim/a“ zu wirken. Er erkennt seine Fehler und setzt sie in einen Kontext zu seinem Schöpfer und Sinngeber.
Dieser Zustand zeichnet sich durch das Bereuen des Menschen und durch eine gewisse Zufriedenheit Allahs (t) mit Seinem an der Erkenntnis um das Gute und Schlechte bemühten Diener aus, auch wenn es diesem in der vierten Stufe noch nicht wirklich gelungen ist, sein Ego im Zaum zu halten und dessen Verstrickungen tatsächlich zu entkommen. Zu dieser Stufe der Reue gegenüber Allah (t) lesen wir sinngemäß im Qur`an z.B.:
„Und wer Böses tut und sich gegen sein Selbst (arab.: Nafs) vergeht und dann Allah um Vergebung bittet, der findet Allah Allvergebend, Barmherzig.“
4:110
5) In der fünften Stufe erreicht der Muslim ausgehend von seinem Herzen und seiner Ratio eine gewisse Selbstsicherheit im „Dschihadu-n-Nafs“, also dem Dschihad gegen das Ego. Es ist eine Stufe, in der der Geist allmählich die Überhand gewinnt. Dies wiederum führt zu einer ersten innere Beruhigung und einer Annäherung an Allah (t). Diese Stufe trägt in den Werken vieler islamischer Gelehrter den Namen des „Nafsu-lmutma`inna“.
6) Die sechste Stufe zeichnet sich durch einen gewissen Grad an Reinheit von Schlechtigkeiten und Sünden aus. In dieser Stufe gelingt es dem Muslim zum Beispiel, sich von größeren Sünden komplett fernzuhalten. Aus der Perspektive der Gelehrten wird diese Stufe als jene des „Nafsun mulhama“ bezeichnet. In ihr wird dem Menschen durch Allah (t) der Weg zu Ilham, also zur geistigen Eingebung eröffnet. Dies darf nicht etwa missverstanden werden, dass ein Gelehrter in dieser Stufe dazu befähigt wäre, gleich den Propheten göttliche Offenbarungen zu erhalten.
Vielmehr handelt es sich bei der Eingebung im Sinne des arabischen Wortes „Ilham“ um eine göttliche Hilfestellung, etwa dadurch, dass dem Muslim in dieser Stufe gute seine Einfälle in Form von aufrichtigen Gefühlen im Herzen oder zum Beispiel in Form von Geistesblitzen zukommen.
7) In der siebten Stufe, die des so genannten „Nafsu-n-natiqa“, schließlich ist der islamische Gelehrte in der Lage, auch die sogenannten Nutq-Angelegenheiten des Qur’an rational zu begreifen. Dies sind jene Angelegenheiten, die sich normalerweise einer rationalen Untersuchung entziehen. So ist der normale Muslim zum Beispiel vom Jüngsten Gericht oder von der Existenz der Engel nicht etwa dadurch überzeugt, dass er diese Iman-Inhalte rational überprüfen konnte, sondern lediglich dadurch, dass sie im Qur`an erwähnt sind, und der Qur`an wiederum für seine Authentizität eine rationale Überprüfung zulässt.
In dieser siebten Stufe ist das Ego zugunsten des Geistes fast vollständig „zusammengeschrumpft“.
8) Die achte und höchste Stufe schließlich ist diejenige des „Nafsun radhyia“. Diese ist die Stufe der völligen Zufriedenheit des Menschen mit sich selbst und mit Allah (t).
In dieser Stufe ist der Mensch einerseits in sich selbst in Harmonie und in Frieden, und andererseits auch Allah (t), der Schöpfer und einzige wirkliche Sinngeber des Menschen zufrieden mit ihm. Diese Stufe zu erreichen ist das eigentliche Ziel jedes Muslims, der nach Allahs Wohlgefallen (arab.: Ridha) strebt. In dieser Stufe ist es der Geist (arab.: Ar-Ruh), der im Menschen in Gottergebenheit regiert, während das Nafs auf seine selbsterhaltenden und auch auf die Selbsterkenntnis ausgerichteten Aufgaben reduziert und zurechtgewiesen wurde.
Einer der Verse, der zur erwähnten Selbsterziehung mit dem Ziel, Allahs Wohlgefallen zu erlangen, aufruft ist z.B. der folgende:
„Und gedulde dich (in aktiver Geduld, arab.: Sabr) zusammen mit denjenigen, die ihren Herrn morgens und abends anrufen – im Trachten nach Seinem Wohlgefallen; und lass deine Blicke nicht über sie hinauswandern, indem du nach dem Schmuck des irdischen Lebens trachtest; und gehorche nicht dem, dessen Herz wir achtlos für die Erinnerung an Uns machten, und gehorche nicht dem, der seinen Gelüsten folgt und kein Maß und kein Ziel kennt.“
18:28
Mit Blick auf das Ego als ein Mittel zur Selbsterkenntnis sollte angemerkt werden, dass das Ego nicht nur als ein durchweg negatives Element zu begreifen ist, das es ausschließlich abzutöten und mundtot zu machen gilt. Schließlich hat das Nafs wie alles Geschaffene auch einen Sinn. Zum einen kommt ihm die Aufgabe zu, dass es den Muslim dazu befähigt, sich im Rahmen der Gebote Allahs neben sinnlichen auch an körperlichen Genüssen erfreuen zu können, wobei man dafür sogar Lohn erhält.
Ein weiterer interessanter Aspekt des Egos besteht darin, dass es dem Menschen sogar dazu dienen kann, eine Vielzahl der Namen Allahs zu begreifen.
Als Beispiel sei hier Sein Name „Al-Malik“ angeführt. Al-Malik könnte als „der absolute Herrscher“, „der absolut souverän über Sein Eigentum, und damit über Alles Verfügende“ übersetzt werden.
Um den Namen Al-Malik zu begreifen, wurde dem Menschen durch sein Ego die Möglichkeit gegeben zu erfahren, was Eigentum überhaupt ist. Denn erst durch die Existenz eines „Ich“ ist der Mensch überhaupt dazu in der Lage, dass er sagt: „Dies ist mein, es gehört mir!“, um damit einen Gegenstand zu seinem Eigentum zu erklären. Ohne ein Nafs wäre er also gar nicht befähigt, bestimmte Dinge seinem „Ich“ und damit seiner Person zuzuordnen.
Nun ist es eben diese Eigenschaft des Nafs, die den Menschen unter Verwendung seiner Ratio und seines Herzens erkennen lässt, welch armselige Besitztümer er doch für sein Eigen erklären kann, und zwar im Vergleich zu seinem Schöpfer, dem der Kosmos, die Menschen und all ihre Besitztümer selbst gehören. So kann der Mensch über sein Ego z.B. den Namen „Al-Malik“ und damit die Großartigkeit und absolute Souveränität Allahs (t) begreifen.