Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (6. Teil)

Fortsetzung des 5. Teils dieser Reihe.

Sodann …


Der von Ibn Abbas (Allahs Wohlgefallen mit ihm) überlieferte Disput mit den Harijiten und der von Ali (Allahs Wohlgefallen mit ihm) über die Prädestination war ein klarer und deutlicher Kalam und notwendig am Platze. In einem solchen Falle ist er immer lobenswert.

Nun ist allerdings das Maß des Bedürfnisses je nah den Zeiten verschieden. Es ist daher nicht befremdlich, dass auch sein Geltungsbereich danach verschieden ist. Dieser erstreckt sich auf das für den Menschen verbindliche Glaubensbekenntnis und die Methode, es zu verteidigen und zu behüten. Was aber die Beseitigung der Zweifel anlangt, die Enthüllung der Wahrheit, die Erkenntnis des Wesens der Dinge, wie sie sind, und das Verständnis der Geheimnisse, auf die der Wortsinn jenes Glaubensbekenntnisses hinweist, so gibt es keinen Schlüssel hierzu als den geistlichen Kampf und die Bezähmung der Leidenschaften, ferner die gänzliche Hingabe an Allah dem Erhabenen und dass man Ihm anhange mit einem Sinn, der rein ist von den Makeln des Schulgezänkes.

Es ist das ein Gnadenerweis von Allah dem Allerhöchsten, der dem zuteil wird, der einem Anhauch sich hingibt, entsprechend dem Gnadenmaße und dem Grade der Reinheit des Herzens. Das ist ein unergründliches uferloses Meer.

Frage:
Du könntest nun entgegnen: Diese Ausführung will wohl besagen, dass diese Wissenschaften eine äussere und eine innere haben, ein Teil davon ist ohne weiteres klar, ein anderer hingegen ist verborgen und erschliesst sich nur durch angestrengstes geistiges Exerzitium und hingebendes Forschen, einen reinen Sinn und ein Herz, das frei ist von überflüssigen weltlichen Bestrebungen.

Das scheint aber der Offenbarung zu wiedersprechen, denn diese kennt kein Äusseres und Inneres, Geheimes und Offenbare sind darin ein und dasselbe.

Antwort:
Wisse also, dass die Einteilung dieser Wissenschaft in esoterische und exoterische von keinem Tieferblickenden verworfen wird, sondern nur von beschränkten Köpfen, die in früher Jugend sich etwas angeeignet haben und darin verknöchert sind, ohne aufzusteigen zu einem höheren Ziel und zu den Gnaden der Religionsgelehrten und Heiligen (Sufis).

Das gesagte wird klar durch Beweise aus der Offenbarung. Sagt doch der Prophet (Allahs Segen und Frieden mit ihm) :

„Der Koran enthält Äusseres und Inneres, ein Ziel und einen Aussichtspunkt.“

Und Ali (Allahs Wohlgefallen mit ihm) sprach , indem er auf seine Brust deutete:

„Hier sind Wissenschaften in Menge, wenn dafür sich Träger fänden.“

Der Prophet (Allahs Segen und Frieden mit ihm):

„Wir Propheten sind geheissen, zu den Menschen ihrer Fassungskraft entsprechend zu reden.“

Ferner:

„Niemals hat einer der Menge etwas erzählt, was nicht ihrem Verständnis angepasst war, ohne dass es für sie zu einer Versuchung geworden wäre.“

Im Koran heisst es

„Diese Gleichnisse bringen wir den Menschen vor und es verstehen sie nur die Wissenden.“ (Sure 29,42)

Der Prophet (Allahs Segen und Frieden mit ihm) sagt weiter :

„Mit der Wissenschaft ist es wie mit etwas verborgenem, das nur die Religionsgelehrten kennen“ usw.

Ferner :

„Wenn ihr wüsstet was ich weiss, ihr würdet wenig lachen und viel weinen.“

Das war doch offenbar ein Geheimnis, das er deshalb nicht mitteilen durfte , weil es ihre Fassungskraft überstiegen hätte oder aus einem sonstigen Grunde. Und warum hat er es ihnen nicht mitgeteilt, da sie ihm doch ohne Zweifel geglaubt hätten, wenn er es getan hätte? In Hinblick auf das Wort Allahs:

„Allah ist es , der sieben Himmel geschaffen und von der Erde desgleichen, es steigt herab der Befehl zwischen ihnen“ (Sure 65,12)

sagte Ibn Abbas (Allahs Wohlgefallen mit ihm) :

„Wenn ich euch die Auslegung davon mitteilen würde, so würdet ihr mich steinigen“, und nach einer anderen Lesart „so würdet ihr sagen, er ist ein Ungläubiger“.

Der Prophet (Allahs Segen und Frieden mit ihm) sagte

„Nicht das viele Fasten und beten ist es , worin Abu Bekr vor euch sich auszeichnet, sondern das Geheimnis, das seine Brust belastet.“

Es ist kein Zweifel, dass dieses Geheimnis auf die Grundlehren der Religion sich bezog und nur auf diese. Was aber zu diesen Grundlehren gehörte, dessen Wortsinn hat er niemandem vorenthalten.

Sahl al-Tustari sagt: „Der Wissende hat ein dreifaches Wissen, das äussere, das er den Leuten des Äusseren mitteilt, das innere, das er nur denen, die fähig sind, zu offenbaren vermag, und ein Wissen, das zwischen ihm und Allah dem Allerhöchsten besteht, das teilt er keinem mit.“

Ein Wissender (Arif) sagt „Das Geheimnis der Gottheit mitzuteilen ist Unglaube.“

Ein anderer:

„Die Gottheit hat ein Geheimnis, wenn es preisgegeben wird, wird die Prophetie zunichte. Und die Prophetie hat ein Geheimnis, wenn es enthüllt wird, wird die Wissenschaft zunichte. Und die Religionsgelehrten haben ein Geheimnis, wenn sie es preisgeben, so werden die Gebote zunichte.“

Wenn dieser Autor nicht damit hat sagen wollen, dass die Prophetie bei den geistig Schwachen wegen ihrer beschränkten Auffassungsgabe ihren Wert verliert, so ist nicht richtig, was er behauptet. Das Richtige ist vielmehr, dass die beiden einander nicht aufheben, und der Vollkommene ist der, bei dem das Licht der Erkenntnis das Licht der Frömmigkeit nicht auslöscht; und die Stütze der Frömmigkeit ist die Prophetie.

Frage:
Du könntest nun entgegnen: Die angeführten Schriftstellen und Traditionen lassen mannigfache Ausdeutungen zu. So sag uns doch klipp und klar, wie Wortsinn und innerer Sinn sich unterscheiden. Denn wenn das Innere zum äusseren im Gegensatz steht, so liegt darin die Aufhebung der Offenbarung. Es kommt das auf den Satz hinaus, dass die Wahrheit und die Offenbarung einander widersprechen, und das ist Unglaube; denn die Offenbarung ist Ausdruck des Inneren. Wenn aber kein Widerspruch und Gegensatz besteht, sondern beide identisch sind, so fällt die obige Unterscheidung und die Offenbarung hat kein Geheimnis, das nicht mitgeteilt würde, sondern das Verborgene und Offenbare ist ein und dasselbe.

Antwort:
Diese Frage rollt ein ungemein schweres Problem auf und führt zu den Wissenschaften der Erleuchtung, gehört nicht also zur Aufgabe der praktischen Wissenschaft, die den Gegenstand des vorliegenden Buches bildet. Denn die Glaubenssätze, die wir dargelegt haben, sind Akte des Herzens, und es ist unsere Pflicht , sie gläubig hinzunehmen, indem wir unser Herz an sie Knüpfen. Nicht als ob wir dahin kommen müssten, dass ihr inneres Wesen uns erschlossen werde, denn dazu sind nicht alle Menschen verpflichtet.

Wenn jenes Bekenntnis nicht zu den Akten gehören würde, so hätten wir es nicht in diesem Buch niedergelegt, und wäre es nicht ein Akt des äusseren Herzens, sondern etwa des Inneren, so hätten wir es nicht in der ersten Hälfte dieses Werkes gebracht. Nur die eigentliche Intuition ist ein Attribut des Inneren Herzens. Wenn aber meine Darlegung zu dem bedenken Anlass gibt, als ob der äussere Sinn dem inneren widerspreche, so muss ich kurz und klar reden, um dieses Bedenken zu lösen.

Wer also behauptet, dass die Wahrheit der Offenbarung widerspricht oder der innere Sinn den äusseren aufhebt, der steht dem Unglauben näher als dem Glauben.

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