Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (5. Teil)

Fortsetzung des 4. Teils dieser Reihe.

Sodann …


Wenn ihm das genügt, so lässt man es dabei bewenden, hilft es aber nicht, dann ist das Übel chronisch geworden und die Krankheit nimmt immer weiter überhand. Da muss ihn der Arzt mit möglichster Milde und Schonung behandeln und das weitere dem Allerhöchsten anheimstellen, sei es, dass ihm durch göttliche Eingebung die Wahrheit enthüllt werde oder dass er im Zweifel verharre, solange es ihm vorherbestimmt ist. Vom Maße dessen also, was das genannte Buch und ähnliche Werke enthalten, lässt sich Nutzen ziehen für ihn erhoffen; über dieses Maß hinaus gibt es zwei Möglichkeiten:

Erstens die Spekulation über nichtdogmatische Dinge, so über die Spannungen, die Seinsweisen, die verschiedenen Wahrnehmungen und die Spekulation über das Sehen, ob es einen Gegensatz hat, der Hemmung oder Blindheit heisst, und ob diese eine ist in Bezug auf alles , was der Blinde behindert ist zu sehen, oder ob für jedes einzelne sichtbare Ding, das er sonst sehen könnte , eine besondere Hemmung anzunehmen ist und was dergleichen extravagante Albernheiten mehr sind.

Zweitens kann man diese Beweise in nichtdogmatischer Materie weiter ausführen und Fragen und Antworten daran knüpfen lassen. Aber auch das sind Spitzfindigkeiten, die denjenigen, dem das erwähnte Maß nicht genügt, nur noch mehr beirren und betören. Bei mancher Erörterungen wird eben durch gar zu gründliches Verfahren die Sache nur noch verworrerener.

Man könnte vielleicht einwenden: Die Spekulation über die Wahrnehmungen und die Spannungen ist insofern nützlich, als sie den Geist schärft, der Geist ist aber das Werkzeug der Religion wie das Schwert das Werkzeug für den Djihad ist; es kann somit nicht verwehrt sein, ihn zu schärfen. Aber das ist gerade so, als wollte man sagen: das Schachspiel schärft den Geist, also gehört es zur Religion. Das ist Geflunker, denn der Geist wird durch die übrigen Offenbarungswissenschaften geschärft, wobei kein Schaden zu befürchten ist.

Nun weisst du, inwieweit der Kalam zu verwerfen und inwieweit er etwas Löbliches ist und unter welchen Umständen das eine oder das andere der Fall ist, ferner welche Personen daraus nutzen ziehen und welche nicht. Da könntest du folgendermaßen argumentieren:

Du hast zugestanden, dass der Kalam zur Widerlegung der Irrlehren nötig ist; nun wohl, die Irrlehren sind entstanden, alles ist damit heimgesucht, das Bedürfnis macht sich geltend. es muss also die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft zur Pflicht der Allgemeinheit werden wie der Schutz des Eigentums und der übrigen Rechte, so also wie das Richteramt, die Verwaltung usw. Solange die Gelehrten sich damit abgeben, diesen Gegenstand in Wort und Schrift zu behandeln und zu studieren, hat er keinen dauernden bestand, wenn er aber ganz beiseite gelassen wird, so verschwindet er überhaupt. Der natürliche Verstand allein genügt aber nicht, um die Einwürfe der Irrlehrer zu lösen, sondern das muss eigens gelernt werden. Es muss also auch der Unterricht im Kalam und das Studium desselben zu einer Pflicht der Allgemeinheit werden im Unterschied gegen die Zeit der Gefährten, Allah habe sie selig.

Damals machte sich eben das Bedürfnis nicht geltend. Wisse also, dass das Richtige folgendes ist:

Es muss in jedem Bezirk einen geben, der sich mit dieser Wissenschaft abgibt und der fähig ist, die Angriffe der Irrlehrern zurückzuweisen, die in dem betreffenden Bezirke herrschen. Und diese Fähigkeit wird auf dem Wege des Unterrichts fortgepflanzt. Es wäre aber verfehlt dieselbe öffentlich zu lehren, wie etwa die Rechtswissenschaft oder die Schrifterklärung. Denn der Kalam ist gleichsam eine Arznei; wir haben die verschiedenen Schädlichkeiten ja oben dargelegt. Der Meister des Kalams muss also bei der Wahl eines Schülers auf drei Eigenschaften sehen:

1. Dieser muss sich einzig der Wissenschaft widmen und eine Leidenschaft dafür haben. Denn wer ein weltliches Geschäft betreibt, der hat keine Zeit , die Sache durchzudenken und sich der Zweifel zu entledigen, wenn sie ihm aufsteigen.

2. Er muss eine scharfe Auffassungsgabe und Beredsamkeit besitzen. Denn ein beschränkter Kopf wird zu keinem rechten Verständnis gelangen, der geistig Schwerfällige aber hat kein Glück im Disputieren. bei ihm sind die Schäden des Kalams zu befürchten, aber nichts von seinem Nutzen zu erhoffen.

3. Er muss durch lauteren Wandel, religiösen Sinn und Gottesfurcht auszeichnen und darf sich nicht von den Leidenschaften beherrschen lassen. Ein sittenloser Mensch wirft nämlich beim geringsten bedenken die Religion weg. Denn auf diese Weise beseitigt er die Schranken, die ihm die Befriedigung seiner Lüste verwehren. Er gibt sich auch gar keine Mühe, den Zweifel loszuwerden. Dieser ist ihm vielmehr eine willkommene Gelegenheit , sich der Last der Verpflichtung zu entledigen, so dass ihm ein solches Wissen eher zum verderben als zum Segen gereicht.

Wenn du die vorausgehenden Absätze verstanden hast, so leuchtet es dir ein, dass beim Kalam nur solche Beweise lobenswert sind, die denen des Korans gleichen, d.h. ansprechende Worte, die auf das Herz Eindruck machen und der Seele etwas bieten, die sich nicht in Distinktionen und Spitzfindigkeiten verlieren. Davon verstehen die meisten Menschen doch nichts, und wenn sie es verstehen, so sind sie überzeugt, dass es nur Taschenspielerei ist, eine Kunst, die der betreffende gelernt hat, um anderen etwas vorzumachen; wenn er aber einen ebenbürtigen Gegner fände, so würde der der selige Imam Schafii und die Alten alle nur deswegen von der ausschliesslichen Beschäftigung mit dem Kalam nichts wissen wollen, weil darin der Schaden liegt, auf den wir hingewiesen haben.

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