Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (4. Teil)

Fortsetzung des 3. Teils dieser Reihe.

Sodann …

 

Was seinen Nutzen betrifft, so meint man, er liege darin, dass er die Wahrheit ans Licht bringt und die Dinge sehen lässt, wie sie sind. Aber leider versagt der Kalam in der Erfüllung dieser hehren Aufgabe; er stiftet vielleicht mehr Verwirrung und Irrtum, als er Aufklärung und Verständnis bringt.

Wenn du eine solche Rede von einem Traditionisten [Hadithgelehrten] oder Hasawi hören würdest, könntest du wohl meinen, die Leute bekämpfen eben das, was sie nicht verstehen. So vernimm denn das Folgende von einem Manne, der im Kalam beschlagen ist und nun einen Hass gegen ihn gefasst hat, nachdem er ihn aufs Gründlichste erprobt, in alle seine Tiefen eingedrungen und die höchste Stufe der Mutakallimun erreicht, der darüber hinaus sich in anderen Wissenschaften vertiefte, die mit dem Kalam sich berühren, und der die feste Überzeugung gewonnen hat, dass der Weg zur Kalam wenigstens in einigen Fragen Licht und Aufklärung und Verständnis gebracht, aber das ist nicht viel und betrifft offenkundige Dinge , die du vielleicht schon verstehst, ehe du dich in die Kunst des Kalams vertiefst.

Sein Nutzen besteht vielmehr einzig und allein darin, das oben dargelegte Glaubensbekenntnis dem Volke zu erhalten und auf dem Weg der Kontroverse gegen die Scheingründe der Irrlehrer zu verteidigen. Denn der gemeine Mann ist kein Denker und lässt sich leicht durch den Einwurf eines Häretikers aus der Fassung bringen, wenn dieser auch nichtig ist. Eine Nichtigkeit lässt sich aber dadurch zurückweisen, dass man ihr eine andere entgegensetzt.

Die gewöhnlichen Menschen haben einfach an die dargelegte Glaubensregel sich zu halten, nachdem sie geoffenbart ist, weil davon ihr Heil in diesem und in jenem abhängt und die Alten darin übereinstimmen. Das Amt der Religionsgelehrten aber ist es, diesen Glauben dem Volk zu bewahren gegenüber dem Blendwerk der Irrlehrer, gleichwie es Aufgabe der Herrscher ist, Hab und Gut der Untertanen gegen ungerechte und gewalttätige Angriffe sicherzustellen.

Nachdem nun der Nutzen und Schaden des Kalams klargelegt ist, muss derjenige, den es angeht, verfahren wie der tüchtige Arzt bei der Anwendung von gefährlichen Arzneien, indem er sie nur am rechten Ort gebraucht, dass heisst wenn und insoweit des Bedürfnis es erfordert. Um ins einzelne zu gehen, so muss der gemeine Mann, der eine Kunst oder ein Handwerk betreibt, wenn er den rechten Glauben besitzt, einfach darin belassen werden, und er besitzt ihn, wenn er das von uns dargelegte Glaubensbekenntnis in sich aufgenommen hat. Solche Leute des Kalam zu lehren, wäre für sie reiner Schaden; denn er würde vielleicht nur Zweifel bei ihnen anregen und ihren Glauben erschüttern, Dinge , die hernach nicht mehr gutgemacht werden können.

Was den gemeinen Mann angeht, der einer Irrlehre zugetan ist, so muss man ihn für die Wahrheit zu gewinnen suchen durch gütige Behandlung ohne Leidenschaftlichkeit und durch einen sanften Kalam, der sich möglichst nahe an den Wortlaut der Beweise des Korans hält, untermischt mit Mahnung und Warnung. Das ist weit dienlicher als eine regelrechte Diskussion nach Art der Scholastiker, denn wenn der gemeine Mann eine solche hört , so hat er den Eindruck, es sei das eben eine besondere Kunst, die der betreffende zu dem Zweck sich angeeignet hat, um den Leuten seine Ansicht aufzureden. Wenn er auch selbst ihm nicht zu erwidern vermag, so setzt er doch voraus, dass die mit dem Disputieren vertrauten Leute seiner Richtung wohl imstande wären, ihm hinauszugeben. Daher ist die Diskussion mit ihm ebenso wie mit dem ersteren verboten.

Dasselbe gilt für einen, der in Zweifel geraten ist. Dieser ist vielmehr zu beseitigen durch gütige Ermahnung und die nächstliegenden anerkannten Beweise, die sich fernhalten von tiefgehender Erörterung. Eine ins einzelne gehende Diskussion ist nur ein einem Falle angebracht, dann nämlich, wenn ein Laie infolge einer Argumentation entgegengetreten wird, wieder zum rechten Glauben zurückgeführt werden könnte. Das ist der Fall bei solchen, die offenbar mit dialektischer Argumentation vertraut und durch für die gewöhnlichen Ermahnungen und Warnungen unzulänglich geworden sind. Bei ihnen ist es so weit gekommen, dass nur mehr die Arznei der Argumentation Hilfe bringen kann; ihnen darf man sie daher auch eingeben.

In einem Land , wo die Irrlehre nur geringe Verbreitung hat und es keine verschiedenen Richtungen gibt, begnügt man sich mit der einfachen Darlegung des angeführten Glaubensbekenntnisses und lässt sich nicht auf Beweise ein, sondern man wartet damit, bis etwa Schwierigkeiten sich einstellen. Ist das der Fall, so gibt man an Beweisen so viel, wie notwendig ist. Wenn hingegen die Irrlehre weitverbreitet ist und man für die jungen Leute fürchten muss, dass sie sich davon verführen lassen, so kann es nichts schaden, wenn man ihnen so viel davon beibringt, wie wir im Buch „Jerusalemisches Sendschreiben“ niedergelegt haben, um auf diese Weise der Einwirkung der ketzerischen Argumentationen entgegenzuarbeiten, wenn diese an sie herantreten.

Es ist das ein ganz kurzer Abriss, den wir eben wegen seiner Kürze diesem Buche einverleibt haben. Wartet. Ist aber der Betreffende sehr intelligent und es führt ihn sein Scharfsinn auf einen Fragepunkt oder es erhebt sich in seiner Seele ein Zweifel, dann ist das gefürchtete Übel da und die Krankheit zum Ausbruch gekommen, dann darf man noch weiter mit ihm gehen und ihm soviel bieten, wie wir im Buch „Der Mittelweg im Glauben“ dargelegt haben. Es ist 50 Blätter stark und enthält nur solche Erörterungen, die sich auf die Grundwahrheiten des Glaubens beziehen, keine anderen scholastischen Untersuchungen.

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