Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (3. Teil)

Fortsetzung des 2. Teils dieser Reihe.

Sodann …

 

Dem ist aber folgendes entgegenzuhalten:

Wenn sie sich so wenig damit abgaben, so geschah es , weil sie nur geringe Veranlassung dazu hatten, da in jener Zeit die Irrlehrer noch nicht aufgetreten waren. Und das die Kürze anlangt, so handelt es sich eben darum, den Gegner zum Schweigen zu bringen, ferner die Wahrheit herauszustellen und die Zweifel zu zerstreuen. Wenn nun der Gegner viele Einwürfe vorbringt und immer wieder insistiert, so währt es natürlich lange, ihn ad absurdum zu führen. Auch sie grenzten das Maß des Bedürfnisses nicht mit Waage und Elle ab, nahem es einmal gegeben war.

Und was den Punkt anlangt, dass sie es nicht unternahmen, den Gegenstand schulmässig zu lehren und darüber zu schreiben, so taten sie das auch in er Rechtswissenschaft, Exegese und Traditionslehre nicht. Wenn es also erlaubt ist, das Recht schriftlich darzustellen und ungewöhnliche Fälle zu konstruieren, die nur selten vorkommen, entweder um sie bereitzuhalten für en Tag, wo sie wirklich eintreten, wenn dass auch selten ist, oder um den Verstand zu schärfen – nun, auch wir arbeiten die Methode der Kontroverse aus in der Erwartung, dass das Bedürfnis danach sich einstellen werde, sei es, dass Zweifel sich erheben oder eine Irrlehre entsteht, oder wir tun es, um den Verstand nicht in Verlegenheit komme, wenn er einmal unvorbereitet aus dem Stehgreif antworten muss, so wie man ja auch die Waffen vor dem Kampfe für den Tag des Kampfes in Bereitschaft hält. Das sind also die Gründe, die man für die beiden entgegngesetzten Ansichten vorbringen kann.

Wenn du aber fragst: „Für welche Ansicht entscheidest denn du dich ?“, so wisse, dass das Richtige folgendes ist:

Es wäre ebenso verfehlt, den Kalam schlechthin zu verdammen, als ihn für jeden Fall gutzuheissen. Man muss vielmehr unterscheiden. Beachte also:

1. Eine Sache kann in sich selbst verboten sein, wie z.B der Wein und das verendete. Und wenn ich sage: In sich selbst verboten, so verstehe ich darunter, dass das Verbot seinen Grund in seiner Eigenschaft hat, die dem betreffenden Ding wesentlich innewohnt, also in unserem Fall die Berauschung und das verenden. Wenn wir daher über eine solche Sache gefragt werden, so sagen wir: Sie ist schlechthin verboten. Ausser Betracht bleibt dabei die Erlaubtheit des Verendeten im Notfall, ebenso wie ein Schluck Wein gestattet ist, wenn jemandem ein Bissen im Hals stecken bleibt und er kein anderes Mittel zur Hand hat, ihn hinunterzuspülen, als Wein.

2. Anderes ist nicht in sich selbst, sondern wegen eines anderen verboten, wie z.B etwas zu verkaufen, solange ein anderer Muslim noch das Vorkaufsrecht hat und zur Zeit des Gebetsrufes, oder das Essen von Ton , weil es schädlich ist. Hier ist wiederum zu unterscheiden zwischen dem, was in jedem Fall, und dem, was nur im Übermaß genossen Schaden bringt. Das erstere ist schlechthin verboten, wie das Gift, das auch in geringer Quantität schädlich wirken kann. Das letztere ist schlechthin erlaubt, wie z.B der Honig, der nur in grosser Menge dem Erhitzen schadet, oder wie das Essen von Ton. Und wenn der Wein als schlechthin verboten bezeichnet wird, der Honig aber als schlechthin erlaubt, so geschieht das mit Hinsicht auf das Gewöhnliche.

So oft man mit einer Sache zu tun hat die entegegengesetzte Seiten darbietet, ist es, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, das ratsamste, dass man eine Einteilung vornehme. Damit wollen wir zum Kalam zurückkehren. Und zwar behaupten wir, dass in ihm sowohl Nutzen als auch Schaden liegt. Mit Hinsicht auf den Nutzen ist er da, wo er Nutzen bringt, erlaubt und löblich oder sogar Pflicht, je nach Umständen. Mit Hinsicht auf den Schaden ist er da, wo er Schaden stiftet , verboten. Der Schaden besteht aber darin, dass er Zweifel erregt, die Glaubenssätze erschüttert und die festeingewurzelte Überzeugung zerstört.

Diese Folgen stellen sich gleich im Anfang ein, und ob infolge der Beweisführung der frühen Glaube wiederkehrt, ist zweifelhaft, die Menschen verhalten sich hierin verschieden. Das ist der eine Schaden, den der Kalam für den rechten Glauben im Gefolge hat. Der andere Schaden besteht darin, dass er die Irrgläubigen in ihrer Überzeugung bestärkt und sie in deren Herzen befestigt, indem die Gründe, die für dieselbe sprechen wieder aufgefrischt werden und sie nun um so hartnäckiger daran festhalten. Aber dieser Schaden ist nur eine Folge des Fanatismus, der durch die Polemik entfesselt wird. Beim gewöhnlichen Irrgläubigen macht man die Wahrnehmung, dass sein irriger Glaube durch die gütige Behandlung in kürzester Zeit verschwindet. Ist er aber in einer Gegend aufgewachsen, wo Polemik und Fanatismus herrschen, so dürfen die Alten und die Modernen sich gegen ihn zusammentun, sie vermögen es nicht, die Irrlehre aus seinem Herzen zu reissen, sondern der leidenschaftliche Fanatismus und der Hass auf die Opponenten und die Gegenpartei nimmt sein Herz völlig in Beschlag und hindert ihn, die Wahrheit zu sehen. ja würde man ihn fragen: Willst du , dass Allah der Herr dir den Schleier wegziehe und mit Evidenz zeige, dass dein Gegner recht hat, er ginge nicht darauf ein, aus Furcht, dass dieser darauf triumphieren könne. Das ist der furchtbare Krebsschaden, der verderbenbringend über Land und Leute sich ausbreitet, und schuld daran sind die Polemiker mit ihrem Fanatismus. So viel über den Schaden des Kalams

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