Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (9. Teil)

Dieses ist nun der 9. und letzte Teil dieser Artikel-Reihe, die sich mit der Thematik des Kalam in der Aqidah beschäftigt, so wie es der Großgelehrte Imam al-Ghazali -rahimahullah- in seinem Werk Ihya Ulum ad-Diin meinte und lehrte.

Im Grunde wollte ich mit diesem -insgesamt recht langen- Text nur auf diesen letzten Teil hinaus. Hier geht er nämlich, nachdem er sehr ausführlich die Für und Wider des Kalam -aus seiner Sicht- darstellte, auf die Meinung von Imam Ahmad ibn Hanbal -rahimahullah- und der sogenannten Hanbaliten ein.

Man wird lesen, dass Imam al-Ghazali der Ansicht ist, dass Imam Ahmad mit seiner Ablehnung des Tawil „in ein Extrem gefallen“ ist. Al-Ghazali gibt zwar klar zu verstehen, dass die Hanbaliten und ihr Imam in dieser Hinsicht „auch die Praxis der Alten (Altvorderen = Gefährten und deren Gefährten) für sich“ haben, aber behauptet kurz darauf, dass „Wer […] die Erkenntnis dieser Dinge aus der Offenbarung allein entnehmen will, der hat keinen festen Boden, worauf er fussen könnte“. Man wird in diesem Text ganz klar erkennen, dass Imam al-Ghazali den genauen Mittelweg des Kalam vom Grad der Erleuchtung des Wissenschaftlers abhängig macht, wobei hier mit Erleuchtung das Sufitum gemeint ist.

Für mich stellte sich – nach der Lektüre dieses letzten Teils – die Frage, was diese Meinung von Imam al-Ghazali für diejenigen Gelehrten und Altvorderen bedeutet, die den Kalam komplett ablehnten. Ich rate hierzu noch einmal das Studium des 1. Teils dieser Reihe an. Dort erwähnt der Imam nämlich nicht nur Imam Ahmad, sondern auch die anderen 3 großen Imame des Fiqh. Aber auch Salaf werden genannt, wie z.B. Hassan al-Basri -rahimahullah- … und viele andere. Waren diese Muslime etwa nicht erleuchtet?

Sehr komisch mutet das für mich an. Aber lest selbst …

Fortsetzung des 8. Teils dieser Reihe.

Sodann …


Die Einsichtigen verstehen ihr Zeugnis, nicht aber jene, die am Äusseren haften bleiben. Deshalb sagt Allah:

„Aber ihr versteht nicht ihren Lobpreis“ (Sure 17,46)

Und zwar begreifen die beschränkten Köpfe gar nichts, aber auch die Mukarrabun (Nahgestellten) und die gewiegten Gottesgelehrten (Religionsgelehrten) verstehen es nicht nach seinem ganzen Wesen, denn in jedem Ding liegen mannigfache Zeugnisse für die Verherrlichung und den Lobpreis Allahs; jeder begreift sie nach dem Maß der empfangenen Gabe und Einsicht. Die Aufzählung dieser Zeugnisse gehört aber nicht zur praktischen Wissenschaft (Fiqh, islamischer Rechtswissenschaft). Auch in dieser Abteilung besteht der Unterschied zwischen denen, die am Äusseren haften bleiben und jenen, die tiefer eindringen. Auch tritt hierin die Verschiedenheit des Inneren vom Äusseren zutage.

Es gibt in dieser Frage verschiedene Abstufungen, eine extreme , und eine mittlere Richtung. Von den Extremen gehen manche in der Aufhebung des Wortsinns so weit , dass sie denselben ganz oder grösstensteils preisgeben, so beim Wort Allahs :

„Wir Haben gesprochen zu ihren Händen und es bezeugen ihre Füsse“ (Sure 36,65)

Und beim anderen:

„Sie fragten ihre Häute: Warum habt ihr wider uns gezeugt? Diese antworteten: Allah, der jedem Ding seine Sprache verliehen, hat uns sprechen geheissen“ (Sure 41,20)

; desgleichen die Fragen von Munir und Nakir, die Lehre von der Waage, der Brücke und der Rechnung, ferner das Zwiegespräch der verdammten mit den Seligen, wobei jene bitten: „Spendet uns Wasser oder was sonst Allah euch beschert hat!“ All das betrachten sie als Sprache der Tatsachen.

Andere hingegen fallen in das entgegengesetzte Extrem und lassen eine Interpretation (Tawil) überhaupt nicht gelten. So Ahmad ibn Hanbal, der nicht einmal die bildliche Auslegung der stelle „Sei! und es ist“ zuliess. Sie meinen, es handle sich dabei um einen wirklichen Anruf mit Lauten und Buchstaben, die von Allah jeden Augenblick hervorgebracht würden, entsprechend der Zahl der Vorgänge des Werdens. So habe ich einen seiner Anhänger sagen hören, dass er die figürliche Auslegung prinzipiell verwerfe, und nur bei den folgenden drei Aussprüchen des Propheten dulde:

1. „Der schwarze Stein ist die rechte Allahs auf Seiner Erde.“

2. „Das Herz des Gläubigen ist zwischen zwei Fingern des Barmherzigen.“

3. „Ich finde die Seele des Barmherzigen auf der rechten Seite.“

Es sind die „Vertreter des Äusseren“ (Zahiriten), die eine Interpretation überhaupt nicht gelten lassen. Der selige Ahmad ibn Hanbal aber, so muss man annehmen, hat wohl gewusst, dass das sitzen auf dem Thron kein wirkliches Ruhen und das Herabsteigen keine Ortsveränderung ist, aber er war prinzipiell gegen die bildliche Auslegung, und zwar aus Sorge für das Seelenheil der Menschen . Wenn er diesen Ausweg überhaupt zuliesse, so meinte er, würde der Riss immer weiter werden, die Sache würde das rechte Maß überschreiten und von der mittleren Linie abweichen; daher sei dieses Verbot nicht unangebracht.

Er hat dabei die Praxis der Alten (Altvorderen = Gefährten und deren Gefährten) für sich, denn diese pflegten zu sagen: Lasst es stehen, wie es ist! So antwortete Imam Malik, über das Sitzen auf dem Thron (Sure 20,4 ff) befragt:

„Das Sitzen ist bekannt, das Wie ist unbekannt, der Glaube daran ist Pflicht und das Fragen danach Neuerung.“

Wieder andere schlugen einen Mittelweg ein und erklärten sich für das Prinzip der figürlichen Auslegung in allem, was die Eigenschaften Allahs betrifft, in der Eschtalogie (jenseitige Vorgänge wie Paradieseintritt, Abrechnung…) hingegen blieben sie beim Wortsinn und verwarfen die metaphorische Deutung. Das sind die Aschariten über welche die Mu´taziliten insofern hinausgingen, als sie von den Eigenschaften Allahs Seine Sichtbarkeit und dass er selbst höre und sehe, figürlich erklärten.

Desgleichen fassten sie auch die Himmelfahrt (des Propheten Muhammed Friede sei mit ihm) bildlich und meinten, dass es keine körperliche gewesen sei. So machten sie es auch mit der Pein des Grabes, der Waage, der Brücke und anderem, was die Eschatalogie anlangt. Wohl aber hielten sie fest an der Auferstehung der Leiber und dass es im Paradies Speisen gäbe und Wohlgerüche und Geschlechtsgenuss und die übrigen sinnlichen Ergötzungen und dass die Hölle einen fühlbaren brennenden Körper enthalte, der die Haut verbrennt und das fett schmelzen macht.

Noch weiter als sie gingen die Philosophen. Sie fassten alle Eschtalogie betreffenden Offenbarungen bildlich und führten sie zurück auf rein geistige Schmerzen und Freuden. Sie leugneten auch die Auferstehung des Leibes, nur die Seele bleibe bestehen und empfinde entweder Wonne oder Pein, aber beide seien unsinnlich. Das sind also die extremen Richtungen.

Die Linie aber, welche die richtige Mitte hält zwischen dieser gänzlichen Auflösung des Dogmas auf der einen und er groben Auffassung der Hanbaliten auf der anderen Seite, ist so fein und verschwommen, dass nur die begnadeten erkennen, welche Dinge im Lichte Allahs und nicht bloss durch Hören erfassen. Wenn ihnen dann die Geheimnisse der Dinge in ihrem wahren Wesen enthüllt werden, so schauen sie auf den Wortlaut er Offenbarung. Was davon mit dem übereinstimmt, was sie im Lichte der Gewissheit geschaut, das halten sie fest, und was damit im Widerspruch steht, das deuten sie um.

Wer aber die Erkenntnis dieser Dinge aus der Offenbarung allein entnehmen will, der hat keinen festen Boden, worauf er fussen könnte. Für einen solchen, der auf die äussere Offenbarung allein sich beschränkt, ist der der Standpunkt des seligen Imam Ahmed ibn Hanbal der angemessenste – Die richtige Mittellinie in dieser Frage aufzudecken, gehört in die Wissenschaft der Erleuchtung (Sufitum). Da die Erörterungen darüber zu weit führen würde, so gehen wir nicht darauf ein. Unser Zweck war vielmehr, zu zeigen, inwieweit der äussere und innere Sinn übereinstimmen und auseinandergehen. Das ist in diesen fünf Abteilungen zur Genüge geschehen.


[Ende der Artikel-Reihe]