Teil 6: Imam al-Ghazali – Das Schlusswort

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM


Das sind die Regeln der Zucht und Sitte für den Umgang mit allen Menschen. Alledem aber liegt die gemeinsame Regel zugrunde, daß du keinen Menschen, sei er lebend oder tot, gering achten sollst, damit du nicht ins Verderben gerätst. Denn du weißt nicht, ob der andere nicht besser ist als du; und wenn er ein Übeltäter ist, so weißt du nicht, ob du nicht auch am Ende so wirst wie er oder er zum rechtschaffenen Manne wird. Achte die Menschen in ihrem irdischen Dasein aber auch nicht allzu hoch. Denn diese Welt und alles, was darinnen ist, ist gar gering vor Gott; und wenn du die Bewohner dieser Erdenwelt hochachtest, so achtest du diese Erdenwelt selber hoch und verlierst dadurch in den Augen Gottes. Gib aber nicht dein Seelenheil hin, um von ihren Erdengütern zu erlangen, denn damit machst du dich nur verächtlich bei ihnen und erlangst erst recht nichts von irdischen Gütern. Und wenn das auch nicht der Fall ist, so hast du doch das Schlechtere für das Bessere eingetauscht.

Stelle dich aber auch nicht offen feindlich zu ihnen, denn dann wirst du um ihretwillen an deinem ewigen und zeitlichen Heile Schaden erleiden, und sie werden durch dich Schaden an ihrem Seelenheile leiden.

Siehst du aber, daß sie etwas Böses.tun, so bekämpfe ihre schlechten Taten, auf sie selbst aber blicke mit dem Auge der Barmherzigkeit. Denn sie setzen sich mit ihrem Tun Gottes Zorn und Strafe aus, und das höllische Feuer wird ihr Los sein. Warum willst du ihnen da grollen?

Vertraue ihnen aber auch nicht allzusehr in ihrer Liebe und dein Lob, das sie dir spenden, und der freundlichen Miene, mit der sie dir begegnen; denn unter hundert findest du einen, der es ehrlich meint. Klage ihnen auch nicht dein Leid, damit dich Gott nicht ihrer Fürsorge überläßt, und verlange nicht, daß sie hinter deinem Rücken und im geheimen sich so zu dir stellen wie in deiner Gegenwart, denn mit solchem Verlangen betrügst du dich nur selber. Denn wann würde dir das je zuteil? Begehre auch nichts von ihrem Besitz, denn dadurch machst du dich ihnen nur verächtlich und kommst erst recht nicht zu deinem Ziel.

Wende dich aber auch nicht hochmütig von ihnen ab und tue nicht, als ob du sie nicht nötig hättest, denn dann wird Gott dich gerade von ihnen abhängig machen zur Strafe für deine Hoffart. Wenn du einen von ihnen um etwas bittest und er gewährt es dir, so sieh in ihm einen Bruder, von dem du Nutzen hast; schlägt er aber deine Bitte ab, so schilt ihn deswegen nicht, denn dann wird er dir zum Feind, der dir lange gram bleibt.

Gib dicht auch nicht damit ab, dem Ermahnungen zu geben, den du nicht geneigt findest, sie anzunehmen, er wird doch nicht auf dich hören und dir nur zum Feinde werden. Wenn du sie aber ermahnst, so tu es in allgemeiner Form, ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Person.

Wenn dir die Menschen Ehre und Gutes erweisen, so danke dafür Gott, der sie dir dienstbar gemacht hat, bitte ihn aber zugleich darum, daß du nicht auf sie angewiesen bleibst. Wenn sie dich verleumden und dir unrecht tun und dich kränken, so stelle es Gott anheim und bitte ihn um Schutz vor ihnen, gib dich aber selbst nicht damit ab, sie zu strafen, denn das macht den Schaden nur schlimmer und ist unnütze Zeitvergeudung. Sprich auch nicht zu ihnen: »Ihr habt mich verkannt«, sondern glaube, daß Gott, wenn du es verdientest, dir schon einen Platz in ihren Herzen bereiten würde, denn er ist es, der beliebt und verhaßt macht. Sei feinhörig und beredt da, wo sie recht haben, taub und stumm da, wo sie unrecht haben.

Vor der Freundschaft der meisten Menschen aber hüte dich, denn sie verzeihen keinen Fehltritt und bedecken keine Blöße, sie rechten um ein Schnalzen mit der Zunge und um die Haut eines Dattelkernes, sie sind mißgünstig auf das Wenige und das Viele, verlangen Recht und geben keines, bestrafen wegen eines Verschens und Vergessens und verzeihen nie. Sie hetzen Bruder gegen Bruder mit Zwischenträgerei und Verleumdung, und die Freundschaft der meisten von ihnen bringt nur Schaden.

Darum baue nicht auf die Liebe dessen, den du nicht genau erprobt hast, dadurch, daß du eine Zeitlang mit ihm in dem Hause oder Orte zusammengelebt hast. Prüfe ihn, wenn er im Amt und wenn er abgesetzt ist, in Reichtum und Armut, oder reise mit ihm und verhandle mit ihm um Geld und Gut, oder erprobe ihn, wenn du in Not bist und Hilfe von ihm brauchst. Wenn er sich dir unter allen diesen Umständen bewährt, so nimm ihn, wenn er älter ist als du, zum Vater oder, wenn er jünger ist, zu in Sohne oder zum Bruder, wenn er so alt ist wie du. Das ist alles, was über die Zucht und Sitte des Umgangsmit den Menschen zu sagen ist.

(Kimiya-i-Sadaat / al-Ghazali)