Wesensanalyse von Imam al-Ghazali (1. Teil)

BISMILLAH-IR-RAHMAN-IR-RAHIM

 

Hier habe ich noch einen Text von Imam Ghazali -rahimahullah- zu diesem Thema. Der Text stammt aus seinem Buch Kimiya-i-Saadat und erklärt sehr schön welchen Einfluß das Herz, die Sinne, Begierden und Neigungen auf den Charakter haben. Ich habe den Text ein wenig überarbeitet, falsche Quellenverweise verbessert und einige philosophische und sufische Übertreibungen entfernt. Zudem habe ich den Text in 3 Teile gesplittet.

Teil 1: Die Selbsterkenntnis
Aus Kimiya-i-Saadat vom Imam al-Ghazali -rahimahullah-
überarbeitet von Yahya ibn Rainer


Wisse:
Der Schlüssel zur Erkenntnis Allahs. ist die Selbsterkenntnis. Darum ist gesagt worden:
»Wer sich selbst erkannt hat, der hat seinen Herrn erkannt«,
und darum heißt es im Worte Allahs:
Wir werden sie Unsere Zeichen überall auf Erden und an ihnen selbst sehen lassen, damit ihnen deutlich wird, dass es die Wahrheit ist.
41:53

Es gibt nichts, was dir näher wäre, als du selbst. Wenn du dich aber selbst nicht kennst, wie willst du dann andere kennen? Sagst du: »Ich kenne mich doch! «, so irrst du dich, denn solche Erkenntnis taugt nicht zum Schlüssel für die Erkenntnis Allahs. Auch die Tiere kennen so viel von sich selbst wie du von dir. Dies äußere Haupt und dies Gesicht, diese Hand und diesen Fuß, dies Fleisch und diese Haut, die kennst du, sonst nichts; von deinem Inneren aber weißt du gerade so viel, dass du issest, wenn du hungrig bist, die Menschen angreifst, wenn du zornig wirst, und nach Begattung strebst, wenn die Begierde über dich kommt. Darin aber sind dir alle Tiere gleich.
Darum sollst du nach Erkenntnis deines wahren Wesens streben, was du bist, woher du gekommen bist, wohin du gehst, und zu welchem Zweck du für diese paar Tage in diese Karawanserei gekommen bist, wozu du erschaffen bist, worin dein Glück besteht und wodurch du glücklich wirst, worin dein Elend besteht und wodurch du elend wirst. Die Eigenschaften die in deinem Innern vereinigt sind, sind teils Eigenschaften des Viehs, teils solche der Raubtiere, teils solche der Teufel und teils solche der Engel. Welches von diesen Wesen bist du nun? Welches von ihnen ist deine wahre Substanz, und welche sind dir fremd und nur geliehenes Gut. Solange du das nicht weißt, kannst du nicht nach deinem Glücke suchen, denn jedes dieser vier Wesen findet in etwas anderem seine Nahrung und sein Glück.
Die Nahrung und das Glück des Viehs: Essen, Schlafen und Begatten. Gehörst du also zum Vieh, so befleißige dich der Werke des Bauches und der Zeugungsglieder Tag und Nacht.
Die Nahrung und das Glück der Raubtiere ist: Schlagen, Töten und Rasen
Die Nahrung und das Glück der Teufel ist: Böses anstiften, Betrügen und Überlisten.
Gehörst du also zu ihnen, so tue ihre Werke, auf dass du zu deiner Ruhe und zu deinem Glücke gelangest.
Die Nahrung und das Glück der Engel aber ist: Das Anschauen der göttlichen Schönheit, und Begierde und Zornmut und die Triebe des Viehs und der Raubtiere finden keinen Weg zu ihnen. Wenn du also von der Substanz der Engel bist, so bemühe dich, dass du Allah erkennest und den Weg zum Anschauen seiner Schönheit findest und dich frei machest von der Herrschaft der Begierde und des Zornmutes, und suche zu erkennen, wozu die Triebe der Raubtiere und des Viehs in dich gelegt sind, ob sie dir dazu anerschaffen sind, dass sie dich zu ihrem Sklaven machen, so dass du ihnen dienen und Tag und Nacht frönen musst, oder dazu, dass du sie zu deinen Sklaven machst und auf der Reise, die dir auferlegt ist, dir von ihnen Frondienste leisten lässt.
Denn du sollst den einen zu deinem Fahrzeug und den andern zu deiner Waffe machen und die wenigen Tage, die du in dieser Karawanserei verbringst, sie in deinem Dienst verwenden, auf dass du mit ihrer Hilfe den Samen der Glückseligkeit erwerbest. Dann aber sollst du sie unter deine Füße treten und deinen Blick richten auf die Stätte der Glückseligkeit, die von den Erwählten die Gegenwart Allahs, von dem gemeinen Volke aber Paradies genannt wird.
Dies alles musst du wissen, um auch nur ein wenig von dir selbst zu erkennen. Wer aber dies nicht weiß, der wird auf dem Wege des Glaubens Beschämung finden, und das wahre Wesen der Religion wird ihm verborgen bleiben.

Willst du dich selbst erkennen, so wisse, dass du aus zwei Dingen geschaffen bist. Das eine ist diese äußere Hülle, die man Leib nennt und mit dem äußeren Auge sehen kann. Das andere ist jenes Innere, das man bald Seele, bald Geist und bald Herz nennt, und das nur von dem inneren Auge erkannt werden kann. Dies Innere ist dein wahres Wesen, alles andere ist nur sein Gefolge, sein Heer und seine Dienerschaft. Wir wollen es das Herz nennen. Wenn wir also von dem Herzen sprechen, so wisse, dass wir damit das wahre Wesen des Menschen meinen, das man sonst bald Geist, bald Seele nennt, nicht aber jenes Stück Fleisch, das in der linken Seite deiner Brust sitzt; denn das hat keinen Wert, und auch die Tiere und die Toten besitzen es, und man kann es mit dem äußeren Auge sehen. Alles aber, was man mit diesem Auge sehen kann, gehört dieser Welt an, der Welt des Augenscheins. Das wahre Menschenherz aber ist nicht von dieser Welt, sondern ist als Fremdling zu kurzer Wanderung in diese Welt gekommen. Jenes äußere Stück Fleisch ist sein Reittier, und alle Glieder des Leibes sind seine Streitkräfte, es selbst aber ist des ganzen Leibes König. Die Erkenntnis Allahs und das Schauen der göttlichen Schönheit ist seine Wesensbestimmung, ihm gelten Pflichtgebot und göttliche Anrede, Lohn und Strafe, seiner ist die Seligkeit und das Elend. Der Leib aber ist in alledem nur sein Gefolge.
Die Erkenntnis seines Wesens und seiner Eigenschaften ist der Schlüssel zur Erkenntnis Allahs. Darum bemühe dich, es zu erkennen, denn es ist eine edle Substanz von der Art der Substanz der Engel, und sein Ursprungsort ist die Gottheit, dort her kam es, und dorthin wird es gehen. Hierher aber ist es als Fremdling gekommen und nur um Handel zu treiben und Samen zu säen. Was aber dieses Handel treiben und Säen bedeutet, das wirst du später erfahren, so Allah will.

Wisse, um das Wesen des Herzens zu erkennen, musst du zuerst von seinem Dasein wissen; dann musst du wissen, was sein wahres Wesen ist; dann, welches seine Streitkräfte sind und welches seine Beziehung zu diesen Streitkräften ist; endlich, wie ihm die Erkenntnis Allahs zuteil wird und wie es zur Glückseligkeit gelangt.
Was nun das Dasein anlangt, so ist es unmittelbar einleuchtend, denn an seinem Dasein kann der Mensch nicht zweifeln. Das Dasein beruht aber nicht auf diesem äußeren Leibe, denn den haben auch die Toten und leben doch nicht, sondern wir meinen mit diesem Herzen den Geist, ohne den der Leib tot ist.
Wenn ein Mensch die Augen schließt und seinen Leib vergisst, samt Himmel und Erde und allem, was das Auge sehen kann, so hat er notwendig eine Kenntnis von seinem Dasein und ein Bewusstsein seiner selbst, auch wenn er von seinem Leib und Erde und Himmel und allem, was darinnen ist, kein Bewusstsein hat. Wenn ein Mensch das recht betrachtet, so wird er … erkennen, dass, wenn ihm auch der Leib fort genommen würde, er selbst doch bleiben und keineswegs zu Nichts werden würde.

Auf die Frage nach dem Wesen und der besonderen Beschaffenheit des Herzens aber hat das heilige Gesetz zu antworten nicht erlaubt. Darum hat der Gesandte Allahs, als man ihn danach fragte, keine Erklärung dafür gegeben. Es heißt im Worte Allahs:
Und sie befragen dich über die Seele. Sprich: „Die Seele ist eine Angelegenheit meines Herrn; und euch ist vom Wissen nur wenig gegeben.“
17:85

Mehr zu sagen war ihm nicht erlaubt, als dass der Geist ein göttliches Wesen sei und zu der Welt des Befehls gehöre.
Wahrlich, Sein ist die Schöpfung und der Befehl! Segensreich ist Allah, der Herr der Welten.
7:54


Es gibt aber noch ein anderes Ding, das man Geist nennt und das der Teilung fähig ist, das ist der Lebensgeist, den auch die Tiere haben. Der Geist aber, den wir hier Herz nennen, das ist das Organ der Erkenntnis Allahs, den haben die Tiere nicht, und er ist weder Körper noch Akzidens, sondern eine Substanz von der Art der Substanz der Engel. Das Wesen dieses Geistes zu begreifen, ist schwer, und eine Erklärung davon zu geben, ist nicht erlaubt. Für die ersten Schritte auf dem Wege der Religion ist diese Kenntnis auch nicht vonnöten. Denn dieser Weg beginnt mit dem heiligen Kampfe, und wer nach Gebühr diesen Kampf kämpft, dem fällt jene Erkenntnis von selber zu, ohne dass er sie von jemand anders zu hören brauchte. Denn diese Kenntnis gehört zu der Gnadenleitung, von der es im Worte Allahs heißt:
Diejenigen aber, die sich um Unsertwillen abmühen (-kämpfen), werden Wir ganz gewiß Unsere Wege leiten. Und Allah ist wahrlich mit den Gutes Tuenden.
29:69

Wer aber diesen Kampf noch nicht vollendet hat, zu dem darf man nicht von dem Wesen des Geistes reden. Vor dem Beginn des Kampfes aber muss man die Streitkräfte des Herzens kennen. Denn wer die Streitkräfte nicht kennt, der kann den Streit nicht führen.